Samstag, 12. Januar 2013

Sinnsuche in einer komplexen Welt

Mir persönlich reicht die sinnlich wahrnehmbare Welt nicht aus, um einen allgemeinen Sinn des menschlichen Daseins innerhalb dieser Welt zu erkennen. Wenn ein solcher Sinn existiert, müsste dieser sich schließlich im Leben eines jeden Menschen finden lassen – und nicht nur für jene, die eine Familie gründen oder ihre persönlichen Ziele und Vorhaben verwirklichen. Doch wo liegt der Sinn im Dasein eines Neugeborenen, das nach wenigen Atemzügen verstirbt?

Hier scheitern Rationalismus und Positivismus als geeignete Erfahrungs- und Bewältigungssysteme. Ein Sinn, verstanden als Zielgebung, die gleichermaßen für alle bewussten Individuen in Betracht kommen kann, lässt sich meines Erachtens nur finden, wenn zu den raumzeitlichen Dimensionen weitere Ebenen ergänzt werden, in die unser irdisches Leben gewissermaßen eingebettet ist. Ob man einen Schöpfergott unterstellt und/oder ein Höheres (multidimensionales) Selbst – allen diesen Glaubenssystemen und Modellen ist gemeinsam, dass sie die Realität durch unbewiesene Ergänzungen wie das Jenseits oder sonstige Dimensionen bereichern und sich dadurch auf vergleichsweise unsicheren Boden begeben.

Rupert Lay (geb. 1929) - Philosoph, Theologe, Unternehmensberater und Psychotherapeut – untersucht hingegen die Fragestellung, ob wir auch ohne Rückgriff auf Religion, Esoterik und sonstige Glaubenssysteme einen Sinn des menschlichen Daseins und damit auch ‘einen Sinn für uns selbst’ finden können.

Die Antwort laute Nein – es sei denn, folgende Aussage treffe zu:

Wir Menschen haben einen Sinn, etwas zu erschaffen, das über uns hinauswächst.”

Als Vertreter des Konstruktivismus geht Lay davon aus, dass nichttriviale Dogmen keinen Wahrheitsgehalt beanspruchen können - was ihn zur weitgehenden Ablehnung der herkömmlichen katholische Theologie führte, insbesondere des Trinitarismus (Ein Gott - Drei Personen) und der Erbsünde. Lay distanziert sich von der theologischen Sprache, der er intellektuelle Unredlichkeit vorwirft, und beansprucht das Recht, mit wissenschaftlichen Methoden an Fragestellungen heranzugehen, die von Theologen lediglich als Gegebenheiten dargestellt würden.

Bei dem Gegenstand der Theologen handele es sich um ein „Gotteskonstrukt“ – doch könne auch er selbst keinen unanfechtbaren Wahrheitsgehalt seiner Thesen und Aussagen beanspruchen. Lays spirituelle Vorstellung hat pantheistische Züge; anstelle von Gott spricht er vom „Göttlichen“ (das Göttliche erweise sich in der Liebe). Bei aller Kritik an Inhalten der kirchlichen Theologie und ihrer Dogmatik bestätigt er die Beobachtung, dass unsere ‘Informationsgesellschaft’ im Laufe der letzten 20 Jahre zwar an Komplexität gewonnen, aber zugleich an Orientierung verloren habe. Diese Orientierung war stets ‘von außen verordnet’ worden; mit dem Ausbleiben dieser Impulse sei eine Art ethisches Vakuum eingetreten

‘Warum fällt es uns persönlich so schwer, uns selbst eine Orientierung zu geben - in einer orientierungslos gewordenen Welt?’ Dies ist eine der zentralen Fragen, auf die Rupert Lay vor 15 Jahren (1997) eine Antwort zu geben suchte. Die Aktualität seiner Ausführungen und Warnungen hat seit dem nicht gelitten, ganz im Gegenteil. Ein Teilaspekt lag schon damals in der zunehmenden Komplexität und Vielfalt der jeden von uns umgebenden Welt, die wir nur selektiv wahrnehmen können. Die Menge der aufzunehmenden Signale hat stetig zugenommen, nicht aber die Fähigkeit der Menschen, die Fülle dieser Signale und Informationen zu verarbeiten - und zugleich eigene, eindeutige Signale auszusenden.

“Die Alexithymie 1) (‘Stummheit der Seele’) ist die Krankheit unserer Zeit geworden.”

"Unser Verhältnis zur Welt wird immer unübersichtlicher."

Resultierend ist unser Leben weniger eindeutig, als es für frühere Generationen war. Wir haben die Qual der Wahl (oder umgekehrt) aus verschiedensten Informationen, Optionen und auch Wahrheiten - kaum ein Thema unseres Lebens ist über Trivialitäten hinaus noch eindeutig.

Schon der Begriff Informationsgesellschaft ist potenziell ein Armutszeugnis: Für Lay impliziert sie eine "Inhumanität, die greusslich ist". Eine Gesellschaft, deren Lebensbereiche von Informations- und Kommunikationstechnologien durchdrungen und dominiert sind, verführt dazu, den Sinn des eigenen Daseins ausschließlich noch über den Gebrauch und die Optimierung solcher Technologien zu definieren.

Beobachten wir nicht genau diese Tendenz in der heutigen Zeit, wo die private Lebensbeichte in Social Netzworks für viele zu einem selbstverständlichen ToDo geworden ist? Ein Zerfall von Werten, dem womöglich ein Sinn-Zerfall folgt?

Da Lay diesen Vortrag vor etwa 15 Jahren hielt, hatte dieser beinahe prophetischen Charakter. Definiert man Werte als Vorstellungen über Eigenschaften (Qualitäten), die Dingen, Ideen, Beziehungen u. a. zugewiesen, so ist inzwischen zumindest ein weitreichender Wandel der Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft eingetreten, der sich meiner eigenen Empfindung nach als Verflachung zeigt.
Allerdings unterscheiden sich die erlebten Werterfahrungen von Generation zu Generation erheblich. Rupert Lay erklärt einen Menschen für dumm, der nicht über die Qualitäten seines Gewissens Bescheid weiß und seine Gewissheiten (und Dogmen) für Wissen hält. Anstatt alles kritiklos und unreflektiert zu übernehmen, was uns von Medien und Eliten vorgesetzt wird, erachtet Lay ein als
Biophilie bezeichnetes Ethos für erstrebenswert. Diese Gesinnung zielt darauf ab, unser Leben in allen seinen Dimensionen (physisch, psychisch, sozial, musisch, sittlich...) zu erhalten und zu entfalten.

Auch wenn ich diese ethische Orientierung noch nicht in sämtlichen Bereiche erfasse, leuchtet spontan ein, dass ein allein auf Mainstream-Inhalte begrenzter Fokus zwangsläufig das Verkümmern in mehr als einer von diesen Dimensionen bewirkt.

Lay betont, dass jede Sinnfrage nur individuell zu beantworten sei. So etwas wie einen kollektiven Sinn gebe es nicht (wohl aber ein kollektives Ethos).

Vielleicht liegt darin der bedeutsamste Hinweis in Lays Vortrag: Jeder Mensch hat das Privileg und zugleich die Verantwortung, aus der Fülle von Impulsen und Optionen eine persönliche Auswahl zu treffen und aus dieser die für ihn maßgebliche Zielorientierung und Sinngebung zu entwickeln.

Auf den ersten Blick erscheint dies als Selbstläufer, denn wir alle gehen in dieser Weise selektiv vor…zwangsläufig. Und doch bleibt es uns überlassen, ob wir uns mit der Befriedigung ‘profaner’ Bedürfnisse begnügen oder ob wir darüber hinausgehend Zeit und Mühe aufwenden, um diese Sinngebung für uns selbst vollziehen.

Anmerkungen

1) Alexithymie oder Gefühlsblindheit ist eigentlich ein Begriff aus der der psychosomatischen Krankheitslehre. Er benennt die Unfähigkeit von Patienten mit somatisierten Beschwerden, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und sie in Worten zu beschreiben. Betroffene werden als phantasiearm und funktional beschrieben; sie halten ihre Beschwerden für rein körperlich, schweigen zu seelischen Fragen und blicken insoweit über den physischen (‘materiellen’) Tellerrand nicht hinaus. Lay verwendet diesen Begriff als Analogon auf die Defizite der heutigen Gesellschaft.

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