Montag, 18. November 2013

Rhetorische Frage: Ist Deutschland noch souverän?

Das Prinzip der Volks-Souveränität bestimmt das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt. Die Verfassung als politisch-rechtliche Grundlage eines Staates beruht danach allein auf der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes.
Artikel 20 (2) des Grundgesetzes formuliert dies so:

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.
Also stehe einzig das Volk in seiner Gesamtheit stehe einzig über der Verfassung - kein Monarch und auch kein ausländischer Geheimdienst. Außerdem klingt die Gewaltenteilung an. Soviel zur Theorie...


Teilautonomes Besatzungsgebiet?

Mit aufgeregter Rhetorik sprechen aufgeregte Pressekommentare von einem "geheimen Krieg der USA", welcher von deutschem Boden aus geführt werde - und sie erwecken den Eindruck, als seien die Erkenntnisse darüber völlig neu und unerwartet.
Aus den von hier aus betriebenen Tätigkeiten der US-Geheimdienste folgert Herbert Prantl ("Wie souverän ist Deutschland?" - Süddeutsche.de vom 18.11.2013), dass auf deutschem Boden offenkundig zwei Staatsgewalten existieren - die deutsche und die amerikanische. 

Das journalistische Engagement zeugt zugleich vom Ausmaß der bisherigen Verdrängung: Seit seiner Kapitulation 1945 ist Deutschland nicht einen Tag souverän gewesen... lediglich das Konstrukt hat sich 1991 im Zuge der Wiedervereinigung verändert. Wird dies laut und deutlich gesagt, dann kommen natürlich Fragen auf:
"Das wiedervereinigte Deutschland soll kein souveräner Staat sein - was ist es dann? Eine Besatzungszone? Und wenn ja, von wem besetzt?"
Werfen wir doch einen Blick auf die Landkarte, auf der die Standorte der US Army in Deutschland eingezeichnet sind (Stand 2008):



Und dann schauen wir uns die Personalstärken der 'Gaststreitkräfte' an (Stand 2009) und vergleichen diese mit der Truppenstärke der Bundeswehr, die im Jahr 2012 noch 200.000 Soldaten betrug.


Land Soldaten
USA 56.680 (bis 2017
'nur' noch ca. 40.000 gepl.)
Großbritannien 18.602
Frankreich 3.582
Niederlande 610
Belgien 221
Gesamt
79.695
Nach dem Ende des Kalten Krieges müssen wir nicht länger vor dem 'großen roten Hund' beschützt werden, der womöglich im Vorgarten Amerikas wildern könnte. Die amerikanischen und britischen Streitkräfte nehmen demzufolge 'andere' Aufgaben wahr:


Panoramablick über die Ramstein Air Base

Die hier abgebildete Airbase Ramstein spielt nach einem Angaben des ORF und der Süddeutschen eine essentielle Rolle bei der Steuerung von Drohnen in Afrika (etwa Somalia), Pakistan und Jemen. Satellitendaten der Drohnen werden hier empfangen und an die steuernden Piloten in den USA übertragen. Überdies wird in Ramstein wird zukünftig die Einsatzzentrale des geplanten Raketenabwehrsystems der NATO installiert werden.

Richtig ist:

"Wenn die Deutschen das Schalten und Walten der US-Geheimdienste tolerieren, akzeptieren, respektieren, wirft das die Frage nach ihrer Souveränität auf."
Also steht 'unsere' Souveränität nicht nur wegen der plötzlich entdeckten Geheimdienst-Aktivitäten in Frage, sondern auch mit Blick auf die angelsächsische Militärstreitkräfte auf deutschem Boden. Allein das US-Militär kostet den deutschen Steuerzahler nach Recherchen der Süddeutschen mehrere hundert Millionen Euro - auf Grundlage eines jahrzenhntealten Abkommens (vgl. "Deutschland zahlt Millionen für US-Militär", Süddeutsche v. 16.11.2013)
Muss man daraus nicht folgern, dass deutsche Steuerzahler die amerikanische Militärinfrastruktur sowie die Koordinierung von Drohnenangriffen mitfinanzieren?
In Deutschland stationierte US-Soldaten sollen an Drohnenangriffen gegen Terrorverdächtige in Afrika beteiligt gewesen sein. Der Generalbundesanwalt prüft einem Medienbericht zufolge, ob er ein Ermittlungsverfahren einleitet.


Die juristischen Grundlagen, u.a. auch das Nato-Truppenstatut, sind hochkomplex und die entsprechenden Haushaltstitel gut versteckt. Wenn man dann noch bedenkt, dass die für Atomwaffen zuständige US-Behörde plant, eine neue Generation von Nuklear-Waffen in Deutschland zu stationieren - dann ist der Terminus 'Besatzungszone' nicht so weit hergeholt, wie es auf den ersten Blick scheint.-

Ohne solche und weitere Zugeständnisse (wie z.B. den € einzuführen) sowie die deutsche Teilnahme am Entstaatlichungsprozess durch die Europäische Union wären die Zwei-plus-Vier-Verträge vermutlich niemals zustande gekommen.

In diesem Kontext ist inzwischen die Rede von einer Postnationalisierung des Verfassungsrechts, einem europarechtlich überlagerten Grundgesetz und einer relativierten Staatlichkeit.
Der Nationalstaat sei  nicht tot, aber entzaubert - schreibt Prantl - aber das trifft doch nicht erst seit ein paar Tagen zu, seitdem sich alle Welt über Fakten aufregt, die lange zuvor offensichtlich oder zumindest absehbar waren.


Historischer Wandel in kaum bewusstem Ausmaß

Es wird höchste Zeit, lieb gewonnene Begriffe neu zu definieren: was bedeuten Souveränität und Autonomie heute, wo nicht nur die Deutschen einen beträchtlichen Teil ihrer Souveränitätsrechte an die EU abgeben? Damit nicht genug: offensichtlich bestehen vertrauliche "Sicherheitsvorbehaltsrechte", welche den westlichen Alliierten (insbesondere den USA und Großbritannien) nach wie vor erlauben, in einem geradezu rechtsfreien Raum innerhalb der Bundesrepublik aktiv zu werden.


Gleichberechtigte Partner? Wenn die Bundesregierung es hinnimmt, dass die USA von deutschem Boden (= "Hauptstationierungsland") aus "Krieg führen" (Prantl), dann tut sie dies, weil ihr schlichtweg nichts anderes übrig bleibt. Insoweit gilt wirklich das traurige Prinzip:

"Souverän ist, wer vergisst, was nur schwer zu ändern ist."
Wie Prantl und andere feststellen, wissen das deutsche Volk und die deutsche Volksvertretung fast nichts davon, "dass von Deutschland aus US-Drohnen gesteuert werden, dass hier eine US-Logistik zur Folterung und Exekution von Menschen sitzt". Dieses rigorose Schalten und Walten legitimiere sich allenfalls zum Teil durch Verträge, also durch das souveräne Verhandeln zweier Staaten. Daraus folgt:
"Es existieren offensichtlich zwei Staatsgewalten in Deutschland: erstens die deutsche, und zwar in der Gestalt, die ihr die EU- und andere Verträge gegeben haben; daneben zweitens die US-amerikanische, in nicht genau bekannter Form."
Doch es sind nicht nur staatliche Strukturen und Institutionen aktiv: Im Auftrage des amerikanischen Geheimdienstes sind hierzulande mehr als 200 Firmen "steuerfrei unterwegs, um zu spionieren", müssen wir uns von Gergor Gysi belehren lassen.
Die durch das Völkerrecht geschützte Souveränität wurde in Europa als Folge der beiden Weltkriege längst ad absurdum geführt, wie u.a. Finanzminister Schäuble bereits vor zwei Jahren feststellte. Dabei geht es um einen historischen Wandel, dessen Ausmaß vielen Bürgern kaum bewusst ist.


Ist Tapferkeit vor dem Freund angebracht?

Und nun? Bilden wir uns allen Ernstes ein, unsere Politiker könnten gegenüber den USA energischer auftreten? Dazu erklärte Peter Scholl-Latour bereits im Juli:

"Da werden vor allem auch wirtschaftliche Rücksichten genommen, man befürchtet amerikanische Sanktionen. Die USA sind eben ein ungeheuer wichtiger Wirtschaftspartner..."
Positiv ist, dass nun endlich eine Bestandsaufnahme geschieht: Mit intensiven Recherchen decken Journalisten (und nicht zuletzt mutige Menschen wie E. Snowden) auf, wie die USA u.a. Deutschland als Plattform für ihren Kampf gegen den Terror benutzen. 
Wir sollten nur nicht so naiv sein und erwarten, dass sich als Folge dieser 'Enthüllungen' etwas an diesen Gegebenheiten ändert.

Ein weiterer Aspekt: Spielt Deutschland nicht ein z.T. ähnliches Spiel mit südeuropäischen Staaten, denen es infolge einseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeiten weitreichende Vorschriften macht (z.B. wenn den Griechen eine Volksabstimmung untersagt wird)?

Und warum agieren 'wir' so (teils über die Institutionen des 'vereinigten' Europa)? Weil es unseren Interessen dient und weil wir es können. Gleiches dürfte auf die Briten und Amerikaner zutreffen.

Hat die fehlende Souveränität letztlich geschadet? 

Abschließend gehört es - auch im 68. Jahr nach Ende des 2. Weltkriegs - dazu, an die kausalen Zusammenhänge zu erinnern, welche zum Verlust der deutschen Souveränität führten:


"Den deutschen Drang nach mehr Anerkennung hat die Welt genau zweimal genossen: Als Kaiser Wilhelm II. sich von der Bismarckschen Bündnispolitik verabschiedete und sein Kaiserreich zum Hauptverursacher des Ersten Weltkrieges avancierte. Und später, als Hindenburgs Machtgeschenk an Hitler diesem und seinen Deutschen die Freiheit gab, die bislang furchtbarsten Verbrechen an der Menschheit zu begehen – als parallele Handlungsstränge zu seinen Angriffs- und Vernichtungskriegen sozusagen.
[...] Der Kalte Krieg hatte für das geteilte Deutschland den Vorteil, daß die im Kaiser- und im »Dritten« Reich zur Selbstvernichtung Deutschlands führende Souveränität durch einen Bündniszwang mit dem jeweiligen Alliierten ersetzt wurde – was zumindest in Westdeutschland zu einer längeren Periode der Demokratisierung führte – wenn auch von den Siegermächten bewirkt." Marc-Thomas Bock, "Souveränität, die es niemals gab"
Die politische Gegenwart Deutschlands kann und darf folglich nicht losgelöst von seiner Geschichte betrachtet werden, insbesondere von den Genoziden und Angriffskriegen des NS-Regimes.
Nun scheint es zwar, dass die Deutschen ihre Lektion aus der Geschichte wenigstens teilweise gelernt haben - und doch wir dürfen uns nicht wundern, dass ein gewisser Rest an erfahrungsbedingtem Misstrauen bis in unsere Zeit fortbesteht.
Nur würde ich mir wünschen, dass diese Dinge wieder beim Namen genannt und nicht hinter einem diffusen Szenario namens 'Anti-Terror-Kampf' verborgen werden. Als Marc Th. Bock die Frage "Hat diese fehlende Souveränität letztlich jemandem geschadet? implizit mit Nein beantwortete, ahnte er freilich noch nichts von den jüngsten Erkenntnissen, die auch eine geostrategische Instrumentalisierung Deutschlands durch 'andere' nahelegen.
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Nachtrag (Juni 2014)

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