Mittwoch, 7. November 2012

Düstere Zeten? An der Schwelle zum 'postpolitischen Zeitalter’

Wahrlich dunkle, chaotische Zeiten kommen auf uns zu, glaubt man Hans Ulrich Gumbrecht, dem Verfasser des Artikels “Barack Obama und das Ende der Politik (7.11.2012, WELT Online). Danach markiere Die US-Wahl den Beginn einer Wende, der wir uns noch nicht bewusst seien: Die zukünftigen Gestaltungsoptionen der Politik – nicht nur in den USA, sondern weltweit – werden in den kommenden Jahren abnehmen – vor dem Hintergrund ökologischer und sozialer Bedrohungen (u.a. der realistischen Gefahr eines dritten Weltkrieges), welche die Menschheit vor Unausweichliches stellen.

Was meint H. Gumbrecht damit?
Die Zukunft wurde bislang wahrgenommen als “offener Horizont von Möglichkeiten”, die uns allen (also ...mit uns waren gewöhnlich die Einwohner westlicher Länder gemeint) zur Wahl stehen. Theoretisch jedenfalls. Und wenn man unbeirrbar an idealisierte Prämissen wie Chancengleichheit festhielt. 

Genau darin, in der Bereitstellung 'unbegrenzter' Zukunftspotenziale erweise sich die Gestaltungsmacht, indem man sich in der Politik angesichts zurückliegender Erfahrungen an diesen Auswahlmöglichkeiten orientiere.

Und was hat sich nun geändert?
“Das postpolitische Zeitalter bricht an. […]"
Als "postpolitisch" bezeichne man das Verhältnis der politischen Handlungsmöglichkeiten zu einer Zukunft nennen, die von Bedrohungen erfüllt ist - welche unvermeidlich und unumkehrbar auf uns zukommen – statt offen und gestaltbar zu sein. Die Alltagssituationen, auf die Politiker heute stoßen, erscheinen – mit Gewissheit – in diesem Sinn vor allem als postpolitische.
Soll wohl heißen: der Gestaltungsraum von Politikern beschränkt sich bald darauf, wohlklingende Nullsätze von sich zu geben und einen Beitrag zu unserer Unterhaltung zu leisten. Verändern, optimieren, Lebensumstände vieler (der meisten) Einwohner verbessern - das war mal. Ist es das, was Gumbrecht seinen Lesern mehr oder weniger schonend vermitteln möchte?
"Das beginnt mit ökologischen Bedrohungen, von denen wir längst nicht mehr glauben, dass sie abzuwenden sind – weshalb wir uns endlich daranmachen, unser individuelles Leben auf sie einzustellen.”
Dass unangenehme Veränderungen vor uns liegen oder zumindest liegen könnten, wird kaum jemand bestreiten:
  • Globale ökologische Veränderungen lassen sich nicht mehr ignorieren – wobei besorgte Fachleute sich fragen, ob das sich derzeit abzeichnende Ausmaß nur der Anfang von weit Schlimmerem sei.
  • Ebenso lässt sich, wenn auch noch nicht ganz so deutlich, eine heftige Auseinandersetzung um den Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen vorausahnen. Ob dieser Krieg zunächst längere Zeit in der Medienwelt, mit wirtschaftlichen Instrumenten und als Cyberwar ausgefochten wird, bevor er militärisch eskaliert, ist von nachgeordneter Bedeutung.
    Eine Phase der Ressourcen-Erschöpfung liegt unweigerlich vor uns, denn nicht allein Erdöl, sondern etliche andere Rohstoffe werden in den kommenden 30 bis 100 Jahren unweigerlich aufgezehrt sein. Dazu zählen u.a. auch technologisch und wirtschaftlich bedeutsame Metalle wie Kupfer und Silber. Aber auch scheinbar Selbstverständlicheinberghes wie sauberes Trinkwasser dürfte binnen Jahrzehnten zu einem ausgesprochen knappen Gut werden – schon heute besetzen 1,1 Milliarden Menschen keinen Trinkwasser-Zugang.

    Gegenwärtig sind in mehr als 30 Ländern Aufstände im Gange oder stehen bevor, weil sich die dort ansässigen Menschen die überteuerten Lebensmittel nicht mehr leisten können. 
So kommt auch Richard Heinberg ("Jenseits des Scheitelpunkts") zu der Einschätzung:
Ohne grundlegende Wende im Denken und Handeln, die auch schmerzhafte Einschnitte und Verzicht einschließt, kann es keine Zukunft geben.
Pessimisten (sofern diese eher negative Einordnung überhaupt noch Bestand hat) entwerfen ein apokalyptisches Szenario: Vor uns lägen “Ressourcenkriege und gesellschaftliche Zusammenbrüche, Inflation und Deflation, Kriminalität und Agonie, Diktatur und Todesstrafen”.
Heinberg und offenbar auch der Verfasser des eingangs zitierten WELT-Artikels fragen daher nicht länger „Wie wollen wir leben?“ – sondern:
 „Wie werden wir leben müssen?“
Tatsache ist: unser Überleben über das gerade begonnene Jahrhundert hinaus könnte davon abhängen , welche Fortschritte wir in der Raumfahrttechnologie machen1) ...und wie schnell diese Fortschritte erzielt werden.
Der Zusammenhang mit der Wahl des US-Präsidenten (2012) ist schnell hergestellt: Die amerikanischen Politik Gesellschaft lasse die Anzeichen einer Umstellung von einer utopisch gewordenen Zukunft der Möglichkeiten zu einer Zukunft unvermeidlicher Bedrohungen und Reduktionen deutlich sichtbar werden.
Eingestellte Zukunftsprojekte und vor allem die finanzielle Belastung der Zukunft werden als Merkmale dieser bevorstehenden Umstellung genannt.


Obama habe sich “konsequenter und auch erfolgreicher auf den postpolitischen Zukunftshorizont eingestellt” als irgendein anderer Politiker der Gegenwart. Deshalb sei es ihm erkennbar schwerer gefallen, auch seinen zweiten Wahlkampf mit dem Nimbus des erfolgsorientierten, vom Glauben an das Machbare beseelten Visionärs zu führen.
Europa dagegen habe die schmerzhafte Einsicht noch vor sich, wonach eine offene Zukunft der Vergangenheit angehört.
Bis vor wenigen Jahren neigte ich zu naiv-zweckoptimistischen Annahme zugeneigt, dass der menschlichen Spezies auch weiterhin ein relativer Gestaltungsrahmen offen stehen werde. Doch heute ich räume ein, dass dieser Zweckoptimismus sich bald als Illusion erweisen mag. Diesbezügliche Überlegungen habe ich hier zusammengestellt: "Boden-Ressourcen werden knapp - Droht ein Rückfall in vorindustrielle Zeiten?"


Über welchen Zeithorizont reden wir hier?


  • Über 14 - 24 Jahre, weil 2029 oder 2039 Apophis wiederkommt und (wieder einmal) der Weltuntergang anberaumt ist? Kaum.
  • Über die Dauer einer US-amerikanischen Legislaturperiode, also vier Jahre? Dieser Ansicht scheint Gumbrecht zu sein, der augenscheinlich ein zeitnahes böses Erwachen seiner amerikanischen Landsleute und letztlich der gesamten Weltbevölkerung erwartet.

Soweit ich dies überhaupt beurteilen kann, werden vor uns liegende Veränderungen über einen längeren Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg sukzessive eintreten – abgesehen von hinreichend hässlichen Krisenperioden, wie sie bereits im 20. Jahrhundert auftraten. Mit einer langsamen, aber unaufhaltsamen Verschärfung der Lebensbedingungen ist in dem Maße zu rechnen, wie grundlegende Bodenressourcen knapper werden und die Auswirkungen der ökologischen Schäden sich ausweiten.

Damit bagatellisiere ich die Bedrohungen der Zukunft (sollte man eher von der ‘Zukunft der Bedrohungen’ sprechen?) keineswegs! Lediglich bezweifle ich, dass wir irgendetwas davon bereits als endgültig feststehend ansehen sollten – dann dadurch würden wir uns (auch als Individuum) sämtlicher Gestaltungsoptionen berauben, sowie der Motivation zu unangenehmen, aber zwingend notwendigen Turnarounds.
Ein ‘post-politsches’ Zeitalter? Bei aller Kritik am politischen Personal hoffe ich sehr, dass dergleichen niemals eintritt…

Anmerkungen
1) Vgl. dazu: "Raumfahrt sichert das Überleben der Menschheit"
NASA-Chef Michael Griffin sieht in Erforschung des Weltalls Schlüssel zum Überleben. Für ihn gibt es für die Raumfahrt nur ein Ziel: Der Mensch muss das Sonnensystem besiedeln…

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