Montag, 24. Dezember 2012

Es gibt keine Materie - Hans-Peter Dürr

  • “Es gibt keine Materie, es gibt nur das Dazwischen…”
  • “Nichts ist prognostizierbar.”
Er habe sein ganzes Forscherleben damit verbracht, zu erforschen was hinter der Materie steckt, berichtet Professor Hans-P. Dürr. Sein Fazit, dass Materie nicht existiert dürfte weitreichende Konsequenzen für unser Weltanschauung und unser Menschenbild entfalten.

1999 gab Professor Dürr in der Juli-Ausgabe der Reihe SPIEGEL spezial ein Interview, das mit der Überschrift 'Das Geistige hat keine Ränder' versehen wurde.

Darin erklärt er unter anderem, unsere Naturgesetze seien nicht mehr als langweilige 'Ausmittelungen', die lediglich eine Annäherung an die Wirklichkeit vermittelten – ein 'langweiliges Ergebnis' in dem Sinne, dass sich nichts Unerwartetes ereignet.
In diesem Kontext wird der Schriftsteller Arthur Koestler zitiert:
“Wo der Sirius stehen wird in 2000 Jahren, das können wir auf die Bogensekunde genau vorhersagen; aber was meine Köchin in fünf Minuten machen wird, das kann ich überhaupt nicht sagen.”
In dieser Priorisierung, das Beständige wichtiger zu nehmen als das Veränderliche. liege ein Fehler, antwortet Dürr. Der Mensch habe Schwierigkeiten zu akzeptieren, das gerade das Veränderliche das Wesen des Lebendigen sei. Wir haben allerdings Schwierigkeiten, das zu akzeptieren. Die Ursache dafür liege in unserer Wahrnehmung der Realität “als eine Welt, die aus Dingen besteht” – anders gesagt, nehmen wir nur eine überzeugende Illusion der Wirklichkeit bewusst wahr .
Auf der subatomaren Ebene der Elementarteilchenphysik ist diese Realität ohnehin nicht existent, erklärt Dürr weiter. Unser Konzept der Materie ergibt auf dieser Ebene keinen Sinn:
“Alles löst sich auf, es sind nur noch Beziehungsstrukturen. Nur im Schnitt wird uns eine Art Kausalstruktur vorgegaukelt, aber es gibt weder Ursache noch Wirkung. Etwas entsteht, etwas vergeht, wild durcheinander. Aber dann gibt es ab und zu Gerinnsel darin. Unsere Körper, die Materie. Die Sonne ist auch so ein Gerinnsel.”
Im weiteren Verlauf dieses zwar älteren, aber lesenswerten Interviews erläutert Prof. Dürr die weitreichenden Implikationen seiner Forschungsergebnisse und Erkenntnissen daraus. Erfreulicherweise fehlen ihm dabei jene Scheuklappen, die Wissenschaftler häufig veranlassen, die philosophische und sogar die spirituelle Dimension der Realität auszublenden oder der Einfachheit halber als nicht existent zu betrachten.

Bedeutsam erscheint mir auch seine Feststellung, dass wir einen Sinn ‘von Allem’ jedenfalls nicht (allein) aus den Gesetzmäßigkeiten der Natur erfassen können. Warum? Weil wir uns zwecks Beantwortung dieser Sinnfrage als ein Untersystem von etwas Größerem auffassen und nun die Beziehung von uns selbst zu dem Größeren zu beschreiben suchen.

“…wenn die Wirklichkeit größer ist als meine Denke, dann gibt es für diese Fragen in dieser Denke keine Antwort.”
Das ist wohl so, denn mit unserem Bewusstsein können wir jeweils nur einen kleinen Teil der gesamten Wirklichkeit erfassen. ‘Der berühmte alte Herr der Quantenphysik’ vergleicht diesen Umstand mit dem Lichtkegel einer Taschenlampe, die in der Dunkelheit ebenfalls nur einen kleinen Ausschnitt der Umgebung beleuchtet.
“Eine Taschenlampe verunsichert einen sehr, weil sie nur das beleuchtet, wo man hinscheint, und das Dunkle drumherum ist noch dunkler. Erst, wenn wir das Licht ausmachen, können wir wieder die ganze Landschaft erkennen. Das ist es, was den Leuten fehlt: das Licht ausmachen, nicht genau wissen. Dann findet man sich mit Ungenauigkeiten wunderbar zurecht.”


Alles hängt mit Allem zusammen

Sicherheit erwachse also nicht daraus, einzelne Dinge zu begreifen - sondern daraus, sich in der Komplexität der gesamten Wirklichkeit zurechtzufinden. Nach Dürr basiert Wirklichkeit auf ‘reinem Beziehungsgefüge’ unterhalb der Atome – eben das ‘Dazwischen’.
Wenn es stimmt, dass Materie überhaupt nicht existiert, dann wird unser Verstehen der Welt nicht dadurch befördert, dass man die Wirklichkeit auf ein auf Materie basierendes Modell reduziert und dann nur noch dieses Modell betrachtet –aber nicht mehr die gesamte Wirklichkeit.
Entspricht ein solches Paradigma unserem Naturell? Vermutlich nicht so ohne weiteres, aber auch die Denkweise von Menschen ist nicht unveränderlich, auch wenn es mitunter den Anschein hat.
Für ‘normale Menschen’ geht es vielleicht darum, die Denkweise der klassischen Physik nicht in unserem Leben durch unser Denken und Handeln zu imitieren – indem wir uns fälschlicherweise als ‘getrennt von den anderen’ auffassen. Wenn die Quantenmechanik erkennen lässt, dass ‘Alles mit Allem zusammenhängt’, dann gilt dies für weit mehr als bloß unsichtbare Prozesse zwischen irgendwelchen unsichtbaren Teilchen.)
Analytisches Konkurrenzdenken ist insoweit kein geeignetes Lebenskonzept (auch hier spielt die eigene Wahrnehmung offensichtlich vielen Menschen einen Streich, die das ganz anders sehen). 

Was Professor Dürr vermitteln möchte, ist nicht grundlegend neu, denn wir kennen integrative Ansätze aus den Geisteswissenschaften und nicht zuletzt auch von Religionen. Neu oder zumindest angenehm überraschend ist, dass ein Naturwissenschaftler aufgrund seiner Arbeit ebenfalls zu dieser Erkenntnis gelangt.

Folgende Worte von Dürr (hier gefunden) verdeutlichen zusammenfassend den Teil seiner Botschaft, der Anwendung in unserer Alltagswelt finden sollte:
“Das Lebendige entfaltet sich durch kooperative Integration, das ist eine Symbiose1).”
„Wir sind durch Liebe verbunden, nicht durch Geist"
“Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach als ein Wald, der wächst. Unsere Geschichte ist voll von Katastrophen. Aber die Kooperation war immer stärker als die Konkurrenz, die Symbiose größer als die Kriege, sonst wären wir gar nicht hier.”


  • Zum Vortrag von  Hans-P. Dürr "Es gibt keine Materie" 

Teil 1 / Teil 2




Anmerkung
1) Symbiose bezeichnet die Vergesellschaftung von Individuen bzw.das Zusammenwirken zweier Systeme zum beiderseitigen Vorteil. In der Biologie findet sich oft eine Symbiose zwischen verschiedenen Organismen. Der Erfolg solcher Beziehungen bemisst sich daran, inwieweit sich dadurch die Überlebens­chancen beider Partner erhöhen. (Hat nur ein ‘Partner’ einen wirklichen Vorteil, spricht man wohl eher von einer parasitären Verbindung)

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