Mittwoch, 5. Dezember 2012

"Physik – ein baufälliger Turm von Babel"

...lautet die Überschrift eines SdW-Artikels von Tony Rothman aus dem Februar-Heft 2012 (PDF-Download). Darin wird aufgezeigt, dass - entgegen der Aussage etlicher renommierter Physiker - noch längst nicht alles Wesentliche auf dem Gebiet der "fundamentalsten aller Naturwissenschaften" erforscht ist.


Dass noch keine Theorie of Everything oder Vereinheitlichte Theorie zur Beschreibung aller Grundkräfte der Natur in einem zusammenhängenden Rahmen aufgestellt wurde, ist allgemein geläufig. Viele weitere grundlegende
Fragen sind ebenfalls unbeantwortet: 
Gab es einen Anfang von Allem ('Urknall') bzw. ist ein zyklischer Werdegang des Universums eher als Beschreibung zutreffend? Wie genau kommt die Trägheit der Masse zustande? Wie viele Dimensionen hat der Raum tatsächlich als drei Dimensionen?  
"Doch schon weit diesseits der Forschungsfront, auf dem Niveau von Vordiplom und Bachelorarbeit, klaffen große Lücken oder gar Abgründe."
Dieser Umstand hindere die Lehrenden der Physik-Fakultäten freilich nicht, in ihren Einführungsvorlesungen ein gänzlich anderes Bild ihrer Disziplin zu vermitteln: Es werde so getan, als sei das gedankliche Gebäude der Naturbeschreibung, der Hauptgegenstand der Physik, "allumfassend, frei von inneren Widersprüchen, konzeptionell zwingend und über all das hinaus auch noch überwältigend schön".

Wer sich mit dieser Erwartungshaltung für ein Physik-Studium entscheidet, wird im Laufe seiner universitären Karriere mehr als eine Enttäuschung erleben, meint Rothman und liefert eine Reihe von Argumenten für seine Auffassung.


Der große Schwindel der physikalischen Anfängerkurse bestehe in der Behauptung, dass jedes Problem eine exakte Lösung besäße. Von  den Studierenden werde sogar erwartet, dass sie diese Lösung finden so werde eine Erwartungshaltung fern jeder Realität aufgebaut. Denn nur verschwindend
wenige physikalische Probleme besitzen wirklich exakte Lösungen, verglichen mit dem großen Rest. Physiker sehen sich meist gezwungen, idealisierte Anfangsbedingungen anzunehmen und mit Hilfe dieser lassen sich meist Näherungslösungen finden - von denen man hofft, dass sie einigermaßen stimmen.
(Jedes physikalische Modell ist eine Idealisierung, d.h. ein vereinfachtes Abbild der Realität, welches bekannte Tatsachen unberücksichtigt lässt: um eine Fragestellung überhaupt beantworten zu können, werden bestimmte Fakten absichtlich nicht in das Modell einbezogen.)
Einstein habe diesen potenziell verzerrten Realitätsbezug so beschrieben:

"Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit."
Rothmans Beitrag wird erst interessant durch seine Beispiele aus der an Universitäten gelehrten Physik; sie zeigen, wie viele beobachtbare Phänomene bis heute nicht exakt beschrieben wurden. 


So enthalte beispielsweise das Standardmodell der Teilchenphysik nicht weniger als 19 frei justierbare Parameter, Kritiker sprechen von willkürlich festgelegten Annahmen. Das ist "eine ganze Menge" - dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine ganz neue, andersartige Theorie alle bekannten Beobachtungen und Messergebnisse 'schöner' erklären würde. (Ob der Kostenaufwand für Teilchenbeschleuniger und andere Experimente, welche das mehrheitlich anerkannte Modell belegen sollen, insoweit gerechtfertigt sind, darf daher zumindest hinterfragt werden.

Wenn man aber nicht sicher sein kann, ob die gefundene Formel eine korrekte, verallgemeinerbare Beschreibung eines Naturphänomens liefert, sollte dieser Umstand nicht verschwiegen werden - selbst wenn der gottähnliche Status 'Physikprofessor' dadurch eine Relativierung erfährt. Die Forderung nach mehr Ehrlichkeit im Umgang mit Studieren hat insoweit durchaus ihre Berechtigung.

Mein Eindruck ist bzw. war allerdings, dass Physiker mit ihrem Selbstverständnis keine Ausnahme bilden - es kommt in vielen Fachrichtungen auf die jeweils Lehrenden an, wie sie Erstsemestlern begegnen. An der Kölner Uni war es (vor vielen Jahren) so, dass man vor dem Vordiplom von vielen Professoren und ihren sich elitär gebenden Assistenten in der Regel überhaupt nicht wahrgenommen wurde - und wenn doch, kam man sich bald wie ein lästiges Insekt vor. Zu lehren war für viele Vortragenden offenbar eine milde Form der Zeitverschwendung, die sie von wichtigerem abhielt. Keine Ahnung, ob dieser Eindruck auch heute noch zutrifft.


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