Sonntag, 4. März 2012

Eine Frage der Perspektive

Klassentreffen, nach 25 Jahren trifft man die alten Schulkollegen – eine gute Gelegenheit, in Erinnerungen zu schwelgen und über Veränderungen nachzudenken.
Bei manchen meiner Schulfreunde war ich sehr überrascht, als sie von ihrem Lebensweg erzählten und was aus ihnen geworden ist. Bei den übrigen, und das war die Mehrzahl, war ich nicht übermäßig erstaunt.
Denn schon damals, als wir alle 17 oder 18 Jahre alt waren, hatte sich deren Lebensperspektive und auch wesentliche Meilensteine auf ihrem Weg als wahrscheinlich abgezeichnet:

  • Vroni, eine damals wie heute sehr attraktive Frau, entstammte aus einer ‘guten, christlich-konservativen Familie’ und wuchs recht behütet auf. Ausbrechen oder gar Aussteigen war nie ihr Thema.
    Sie war eine mittelmäßige Schülerin und hatte schon in den 80ern erklärt, im Leben komme es auf etwas anderes an …damit meinte sie durchaus auch eine tiefe Spiritualität.
    Leider hatten wir nur Gelegenheit zu einem kurzen Gespräch, das aber ausreichte, um zu erkennen: Veronika wurde als Christin erzogen und ist ihrem Glauben treu geblieben, vermittelt den Eindruck einer authentischen, verantwortungsbewussten Lebensführung.
  • Roland, in meiner Erinnerung ein Hardcore-Streber und Aspirant auf einen Abi-Schnitt von 0,9 (damals gab es das in NRW) war ebenfalls in einem konservativen Elternhaus verwurzelt, das aber andere Akzente setzte als die Eltern der schönen Vroni – Musikunterricht, Nachhilfelehrer (bei einem Einser –Zeugnis!!) und auch nach dem 18. Lebensjahr eng am väterlichen Zügel.
    Heute sitzt Roland im Vorstand einer großen, deutschen Bank und umgibt sich mit Macht – und Statussymbolen. Mit Glaubensfragen oder einer Suche nach Erkenntnis hat er nichts am Hut. Ob er glücklich mit seinem Leben ist? Keine Ahnung.
  • Stefano, mit seiner Familie aus Venezuela kommend, war schon damals durchdrungen von einer marxistischen und atheistischen Weltanschauung. Seine persönlichen Erlebnisse wie auch die Erfahrungen seiner Eltern hatten ihm früh gezeigt, was krasse soziale Gegensätze sind.
    Sein hohes politisch-soziales Engagement nötigte mir schon in der Schulzeit großen Respekt ab, obwohl wir in kaum einer der diskutierten Fragen einer Meinung waren.
    Auch Stefano ist ‘in seinem Gleis’ geblieben…
Natürlich lässt sich daraus keine feste Regel formulieren, etwa dergestalt, dass alle Menschen ihr Leben so leben, wie es ihnen in die Wiege gelegt oder in ihrer Kindheit beigebracht wurde.
Es gibt genug andere Beispiele von Persönlichkeiten, die eine entscheidende Wendung (oder mehrere) vollziehen und in eine völlig andere Richtung gehen, als man angesichts der sie zuvor umgebenden Einflüsse vermutet hätte.
Dennoch werden wir während unserer Jugendzeit wir durch Begegnungen, Erlebtes und Erlerntes stark geprägt werden - wodurch wir zunächst einen bestimmten Fokus und später eine 'eigene' Perspektive entwickeln. Das bedeutet:
Ob wir besonders spirituelle oder religiöse Menschen werden oder ob uns nüchtern-analytische Wissenschaft fasziniert, oder ob wir ausdrücklichen Wert auf materielle Sicherheit bis hin zu großem Reichtum legen – all dies hängt wesentlich davon ab, was wir erleben oder eben nicht erleben.

In hohem Maße wird unser Lebenslauf davon bestimmt, inwieweit wir als Kinder ein Urvertrauen entwickeln. Wer, wie Veronika ein sicheres Fundament kennenlernt und die Erfahrung macht, das dieses Fundament auch hält was es verspricht, hat meist wenig Anlass, nicht darauf zu bauen.


Wer wie Stefano so früh mit Zerrissenheit und Gegensätzlichkeit, aber auch mit Leid konfrontiert wird, gewinnt eine andere Lebensperspektive und folgt dem Grundsatz, notwendige Veränderungen aktiv zu fördern und das eigene Glück wie das der gesamten Gesellschaft zu schmieden.
Ob er diese aktive Haltung mit oder ohne einen Gott einnimmt, hängt wiederum von seinen Erfahrungen ab. Übertragen auf den globalen Kontext erscheint es (selbst-)verständlich, dass Menschen aus verschiedenen Regionen völlig unterschiedliche Konzepte von Lebensführung und Spiritualität entwickeln.

Wer wollte die verschiedenen Perspektiven bewerten oder gar gegeneinander abwägen?

Auch wenn solches als Resultat nicht auszuschließen ist, verlangt eine Religion sehr viel mit ihrer ultimativen Forderung, die eigene Perspektive abzulegen und an Dogmen und Wesenheiten zu glauben, welche der persönlichen Erfahrungswelt widerspricht. In diesem Sinne fasse ich beispielsweise die Missionsversuche evangelikaler und muslimischer Glaubensgemeinschaften in Deutschland auf, die beide nur einen, nämlich ihren Weg für richtig und heilsbringend halten. Alle anderen Ansätze seien nicht nur untauglich, sie führten zudem in einen ‘unendlichen Zustand voller Leid und Finsternis’, den niemand wünschen könne. Ja ja...

Es mag etwas hart klingen, aber ich empfinde solche Missionierungsreden beinahe als Vergewaltigungsversuch. Was für eine Erwartungshaltung steht dahinter? Dass ein Mensch, der mit seinem Leben mäßig zufrieden ist, die Summe seiner Erfahrungen und verinnerlichten Überzeugungen über Bord wirft und freudig-spontan erklärt, nun etwas anderes glauben zu wollen?

Sofern ein Richtungswechsel aus eigenem Antrieb, zum Beispiel infolge eines tief empfundenen Defizits der bislang gekannten Lebensmaxime stattfindet, sieht die Sache natürlich anders aus. Es ist die eigene Motivation, die hier zählt – und Motivation ist eng mit der individuellen Perspektive verbunden (die mitunter sehr wohl einer Korrektur bedarf – doch erst dann, wenn die betreffende Person dies selbst erkennt, wenn sie ‘soweit ist’).
Der häufige Vorwurf fundamentaler Christen und Muslime an den Mainstream und Vorhaben nach dem Motto 'individuelle Horizont-Erweiterung' klingt meist etwa so:
"Ihr glaubt, an einem bunten Buffet zu stehen und Ihr stellt euch doch nur ein selbstgefälliges Menu zusammen, so wie es gerade am besten schmeckt. Offen für alles, glaubt Ihr, jeder Glaubens- und Weltanschauung etwas Interessantes und Nützliches abzugewinnen."
Es schließt sich dann eine interessante Frage an, die keineswegs einfach zu beantworten ist:

Ist wirklich alles gleich(ermaßen) gültig?

Zutreffend ist sicher: Ein Glaube bzw. ein agnostisches Überzeugungsmodell soll eine tragfähige Grundlage für das Leben eröffnen. Außerdem erhoffen sich viele eine Perspektive für die Zukunft, die oft über das Sichtbare und das gegenwärtige Leben hinaus gehen soll.
Es ist zwangsläufig ein Muss, die Frage zu stellen, worauf sich dieser Glaube bzw. dieses Überzeugungsmodell stützt und zu welchem Ziel er führt.
Daraus folgt m.E. zwangsläufig zweierlei:
  • Es ist nicht alles gleichermaßen gültig. Durchaus bestehen Glaubensannahmen und Anschauungen, die keine sichere Grundlage bieten – weder für das Jetzt noch für das Später. Dazu lassen sich Kriterien formulieren, von denen Plausibilität (oder Kohärenz) für mich eine wesentliche ist.
  • Aber: Aufgrund unserer unterschiedlichen Perspektiven und Wahrnehmungen können wir meiner Auffassung nach niemals alle zu dem selben Ergebnis gelangen.
Die Kriterien für ein tragfähiges Glaubenssystem im einzelnen zu erörtern, würde hier zu weit führen und wäre im Hinblick auf das zuvor Gesagte auch nicht konsequent. Immerhin lässt sich vielleicht ein Rahmen abstecken:
Als soziale Wesen brauchen wir eine Leitlinie für den moralischen Umgang miteinander und für ethisches Handeln insgesamt, d.h. ein Ethos. Noch bedeutsamer ist vielleicht die Suche nach einer Sinngebung.

Braucht ein philosophisches oder Glaubensmodell für seine Konsistenz darüber hinaus starre Lehrsätze oder gar eine schwer verständliche Theologie - die den Laien überfordert und ihm deshalb von 'Eingeweihten' erklärt werden muss?
Anwendbare Kriterien ergeben sich eher aus dem Prinzip von Ursache und Wirkung: Was wir für wahr und erstrebenswert halten, wirkt sich immer auf die eigene Persönlichkeit und das Verhalten aus. Im Idealfall wäre das Verhaltensbild einer Person ein Spiegelbild dessen, was sie glaubt. Doch wir kennen alle den Unterschied zwischen Theorie und täglicher Lebenspraxis.


Und doch meine ich, dass ein Glaube und eine Lebensphilosophie zumindest Wirkung implizieren sollte, durch die Menschen sich bemühen, liebevoll, ehrlich, tolerant, verantwortungsvoll, mitfühlend (...) zu werden.

Aus meiner subjektiven Sichtweise muss es in einem solchen Glauben einen Schöpfergeist, eine lenkende Instanz geben - die ‘etwas mit uns vor hat’, d.h. mit unserem Dasein und der gesamten Schöpfung einen Zweck und ein Ziel verbindet.
Falls es keinen Gott (in welcher Identität und Form wir uns Gott auch vorstellen mögen) gibt und auch keine Form von bewusst erlebter Ewigkeit, dann sind wir tatsächlich nur Sternenstaub. Wir haben dann keinerlei Fixpunkt und unser kurzes Dasein verläuft letztlich ohne Sinn und übergeordnetes Ziel.
 

Die Schlussfolgerung daraus wäre traurig und wohl auch fatal – denn jeder könnte so leben und handeln wie er wollte, ohne Verantwortung und Rücksicht für sich und andere; unsere Entscheidungen und unser Tun bliebe ohne jede Konsequenz (wenn wir uns nicht erwischen lassen und uns nicht gerade zu Tode saufen).
Doch sollte es tatsächlich der Wahrheit entsprechen, dass die Einhaltung moralischer Grundsätze für einen Teil der heute lebenden Menschen nur dann maßgeblich ist, wenn sie sich ständig von einem strafenden, eifersüchtigen Überwesen beobachtet und kontrolliert fühlen? 
Ich kann und will nicht darüber hinwegsehen, dass im A.T. der Bibel ein Gottesbild zu einer Zeit gezeichnet wurde, die inzwischen zweieinhalb tausend Jahre zurückliegt (oder noch länger, je nach Textstelle).
"Ein Auge ist, das alles sieht, selbst was in finstrer Nacht geschieht!"
Dieses Bild hat Generationen und Jahrhunderte unserer Religion geprägt, wie Jörg Sieger schreibt (vgl. "Das Gottesbild der Bibel"). Ich schließe nicht aus, dass damals ein Bild von einem Gott als notwendig erachtet wurde, "der alles sieht, der irgendwelche Gebote aufgestellt hat und nun peinlichst darüber wacht, dass diese Gebote auch eingehalten werden. Gehorsam belohnt er und Ungehorsam straft er unbarmherzig... beobachtet den letzten Winkel, blickt ins Verborgene und prüft den Menschen "auf Herz und Nieren"...ein furcht-einflößendes Bild..."
Meine Kriterien für ein tragfähiges Glaubenssystem, in das ich Vertrauen setzen möchte anstatt mich vor ihm zu fürchten, sehen anders aus.
Andere Menschen werden zu anderen Überlegungen gelangen, doch werden vermutliche nur wenige jede Form von schöpferischer Intelligenz kategorisch ausblenden.
Den übrigen schadet es vermutlich nicht, sich auf einer Suche an jenen noch Unbekannten [Geist, Gott, Lenker, Schöpfer…] zu wenden und um Hilfe zu bitten, den individuell richtigen und geeigneten Weg zu finden. 
Ob man dies tun möchte oder nicht, ist selbstverständlich jedem Menschen selbst zu überlassen.

Eine solche Suche kann lange dauern . insbesondere dann, wenn man vom eigenen Naturell her dazu neigt, Dinge so lange zu hinterfragen, bis man sie wirklich meint verstanden zu haben. Für einige von uns endet diese Suche vielleicht nie in diesem Leben... ist der Weg ist das Ziel?



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Noch eine kurze Fabel zum Begriff ‘Perspektive’:
Der alte Fabeldichter Aesop saß eines Tages am Rand der Straße nach Athen, als ihn ein Reisender fragte: "Welche Art von Leuten leben denn in Athen?"
Aesop entgegnete ihm: "Sagt mir erst, woher ihr kommt und was dort für Leute leben."
Stirnrunzelnd sagte der Mann: "Ich komme von Argos. Die Menschen dort taugen nichts, sie sind Lügner, Diebe, ungerecht und streitsüchtig. Ich war froh, von dort wegzukommen."
"Wie schade für Euch", antwortete Aesop, "dass Ihr die Leute in Athen nicht anders finden werdet."



Gleich darauf kam ein anderer Reisender vorüber und stellte dieselbe Frage, und als Aesop sich auch bei ihm nach seiner Herkunft und den Bewohnern der Stadt erkundigte, meinte dieser: "Ich komme von Argos, wo alle Menschen sehr nett, freundlich, ehrbar und wahrhaftig sind. Ich habe sie wirklich ungern verlassen."
Da lächelte Aesop und sagte: "Ihr werdet die Menschen in Athen ganz genauso finden."


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