Mittwoch, 8. August 2012

Freier Wille: Illusion, Wunschdenken oder partiell existent?

Eines der Themen, die mich nicht loslassen, ist unser sogenannter freie Wille. Durch eigene Erfahrungen und Überlegungen komme ich vorläufig zu einer skeptischen Einschätzung: Willentliches Handeln des Menschen unterliegt faktisch erheblichen physiologischen, psychischen und sozialen Einschränkungen. Ist es denkbar, dass die Unterstellung, über einen wirklich freien Willen zu verfügen, einem reinen Wunschdenken nahekommt?

Nun mal langsam..für ein einheitliches Begriffsverständnis wäre eine Definition hilfreich. Doch die Bemühungen, den Freien Willen prägnant zu umschreiben, führt zu vielschichtigen Resultaten. Diese Aussage erscheint brauchbar: 
“Im weitesten Sinne meint Willensfreiheit die unterstellte menschliche Fähigkeit, sich unter gegebenen Bedingungen für oder gegen etwas zu entscheiden.”
Daraus folgt zunächst:
Unbedingte Willensfreiheit wäre ein Konzept, das jede Beschränkung der Handlungs- und Entscheidungsfreiheit – e würde erfordern, dass das Wollen von absolut nichts abhängt, also durch nichts bedingt ist. Es liegt auf der Hand, dass so ein Konzept auf die Situation des Menschen nicht anwendbar ist. Absolut freie Wahlmöglichkeit geht verloren, sobald Abhängigkeiten bestehen oder eine sonstige Verbindung zwischen den Motiven und dem Willen gibt.


Bedingte Willensfreiheit

Wenn wir aber ehrlich sind, entspringt unser Verhalten aber in den meisten Fällen einer ausgesprochen vielschichtigen Motivationslage und oft genug findet es in einem Geflecht voller Abhängigkeiten statt. ‘Freier Wille’ meint folglich die bedingte Willensfreiheit. Sie sieht den Willen als frei, wenn eine Person “ihren Willen nach ihren persönlichen Motiven und Neigungen gebildet hat, tun kann, was sie will (Handlungsfreiheit), und auch anders hätte handeln können, wenn sie es denn nur gewollt hätte.”
Doch wie bedingt und aus Abhängigkeiten entstanden sind unsere Handlungen und Entschlüsse? Wo folgen wir dem (vermeintlich) Unausweichlichen?

Sicher, es ist uns möglich, in geeigneten Situationen (wenn genug Zeit ist) reifliche Überlegungen anzustellen, gründlich abzuwägen und so zu einer Entscheidung zu gelangen, die unser konkretes Handeln oder Nichthandeln bestimmt. Zumindest dann bilden wir uns ein, unsere Entscheidung sei dann allein Ausdruck unseres freien Willens. (Rückblickend stellen wir oft genug fest, dass wir plötzlich ganz anders handelten, als wir es zuvor beabsichtigt hatten)


Viele physiologische Abläufe werden allein durch ein genetisch festgelegtes Programm gesteuert, das wir weder genau kennen und dessen wir uns im Grunde selten bewusst sind. Unser Körper erlegt uns überdies etliche Zwänge auf, die unser Verhalten massiv beeinflussen: wir müssen atmen, benötigen regelmäßig bestimmte Nahrung, brauchen ein bestimmtes Milieu zum Überleben und einiges mehr, damit wir uns wohlfühlen. Und dann sind da noch ‘aufschiebbare’ Triebe wie der zur Fortpflanzung, Schutz- und Gemeinschaftsbedürfnis und seit einigen Generationen verstärkt sich bei vielen das unbedingte Streben nach Konsum und Unterhaltung.

Nimmt all diese Aspekte zusammen, so schrumpft das Betätigungsfeld des freien Willens auf mindestens zwei überschaubare Felder:
  • die Wahl zwischen Alternativen (Auswahlentscheidungen) wir können nicht frei bestimmen, ob wir Nahrung zu uns nehmen. Doch wir haben (jedenfalls hierzulande) die Wahl, was wir essen möchten und dürfen den Zeitpunkt festlegen…wenn wir nicht zulange damit warten.
Auch die Zahl und Beschaffenheit unserer Sexualpartner dürfen wir wählen – doch gerade hier zeigt sich doch, wie sehr der Entscheidungsraum vieler Menschen durch ihre halbbewussten Triebbedürfnisse eingegrenzt ist.
bestimmte Grundsatzentscheidungen
  • die meisten Menschen können beispielsweise Einfluß auf ihren Lebensweg nehmen, wozu Bildungsangebotes oder Berufswahl ebenso zählen wie die Bindung an einen Lebenspartner oder die Wahl einer anderen Form des Gemeinschaftslebens.
Doch wie frei der Mensch denn wirklich, einen eigenen Willen zu entwickeln und diesen zu realisieren?
Ein Beispiel: Gerne werden Glaube und Religion als möglicher Ausdruck des individuellen menschlichen Willens angesehen, doch kann dies überhaupt zutreffen? Untersuchen wir kurz die Voraussetzungen, die für eine freie Willensentscheidung in Glaubensfragen gegeben sein müssen: 
  • keine subtile Beeinflussung bzw. Manipulation (zumindest muss die Chance bestehen, sich manipulativer Einflüsse bewusst zu werden und (wenigstens) insgeheim zu entziehen)
  • keine Unterdrückung oder Zwangslange, wie sie durch staatliche und klerikale Institutionen hervorgerufen sein kann. Auch hier in Deutschland sind der Freiheit des Glaubens bestimmte Grenzen gesetzt.
  • Ausbleiben jedes elterlichen, familiären und gesellschaftlichen Zwangs
Freilich ließe sich einwenden, dass die Möglichkeit zur freien Entscheidung auch dann bestehe, wenn diese Rahmenbedingungen ungünstig ausfallen: ein der Zwangstaufe unterzogener Säugling habe dennoch mit Eintritt seiner Religionsmündigkeit die Gelegenheit, jegliche Vorentscheidung nachträglich zu korrigieren – oder bewusst und willentlich zu bestätigen.

Die Lebenswirklichkeit sieht wohl anders aus: Kinder erhalten in frühen Jahren eine Prägung, der sie sich nicht oder nur schwer entziehen können. Moral, Glaube und viele weitere …. werden verinnerlicht – dieser Prozess lässt sich zeitlebens nicht vollständig neutralisieren (was auch nicht wünschenswert wäre, denn diese Prägung hat je nach Liebenssituation durchaus ihren hohen Nutzen).

Da uns diese Implikationen, je weiter sie in der Vergangenheit liegen, kaum mehr in ihrer Gesamtheit bewusst sind, erleben wir subjektiv unser Handeln als Ausdruck der Freiheit, so zu handeln und nicht anders. Einbildung?
Der Verfasser eines kritischen, bisweilen radikalen Textes geht noch viel weiter.
Bis hierhin habe ich die Existenz eines bedingt freien Willens weder bejaht noch verneint. Vielmehr stelle ich fest, dass ich mit eigenen Gedankenübungen allein hie und nimmer eine annehmbare Antwort auf diese Frage finden werde – höchste Zeit für etwas Input..

Bewusster oder unbewusster Wille?
In einer kurzen Abhandlung auf philosophy-online.de habe ich folgende Formulierung dazu gelesen:
“Wenn es überhaupt eine unbezweifelbare Grunderfahrung unseres Daseins gibt, dann die, dass wir uns zeitweise als rational abwägende Autoren unseres eigenen Tuns und insofern als frei erleben.”
Wohl wahr…und zudem präzise formuliert: Wie erleben uns als Inhaber eines freien Willens und unsere Handlungen als nur ‘von äußeren Faktoren’ eingeschränkt. Davon gibt es mehr als genug (s.o.). Gemeint sind in diesem Kontext eher die ‘inneren’ Prozesse und Gegebenheiten, häufig auf die zentrale Frage fokussiert, ob das Gehirn unser Bewusstsein produziere.
Ist unsere Selbstwahrnehmung also bloße Selbsttäuschung?
  • Neurowissenschaftler [...] erklären, die Idee eines freien menschlichen Willens sei mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren…
  • …Studien zeigen … dass unserem Tun deterministische neuronale Prozesse zugrunde liegen, dass das subjektive Erleben der Urheberschaft fallibel [fehlbar, dem Irrtum unterworfen] sein kann und dass vermeintlich selbst initiierte Handlungen unbewusst ausgelöst werden können.
Unsere Unfreiheit lasse sich so allerdings nicht nachweisen, denn z.B. Determinismus sei nicht empirisch begründbar, weil empirische Daten nur statistische Korrelationen rechtfertigen, aber keine deterministischen Zusammenhänge.
Dies leuchtet mir ein, zumal Experimente (wie der nachfolgend geschilderte Versuch) nur sehr vereinfachte Entscheidungsvorgänge erfordern. Die Alltagshandlungen bis hin zu strategischen Entscheidungen, die weitaus höhere Anforderungen an unsere Willensbildung stellen, sind experimentell nicht zugänglich,sagen Philosophen – und liegen zumindest bis heute richtig damit.
 

Libet-Experiment und Willensfreiheit

Die nachfolgende Dokumentation setzt sich kritisch mit dem sog. Libet-Experiment auseinander, welches vielfach für die Zulässigkeit der Schlussfolgerung angeführt wurde, so etwas wie ein freier Wille existiere nicht.
Aber: Diese Dokumentation ist – wie ich einem früheren Kommentar von Herrn I. Kittel (auf einer ehemaligen Webseite) entnehme – mindestens zehn Jahre alt (Erstausstrahlung 30.6.2001) und bietet einigen Anlass zur Kritik.
Dennoch, als Einführung in Thematik und Fragestellungen erscheint diese Doku mir geeignet.



Dokumentation auf 3SAT : Die Libet-Experimente

Teil I :


Teil II  /  Teil III

Das Ich – eine programmierte Maschine?
Hoffentlich nicht…und wozu sollte eine zur Selbstreproduktion fähige Maschine ein Selbstbewusstsein besitzen und über so viele störende Empfindungen, welche ihre Funktionalität durchaus beeinträchtigen (oder beflügeln) können.
Der Physiologe Benjamin Libet veröffentlichte Anfang der 1980er Jahres einen als Libet-Experiment bekannt gewordenen Versuch, die zeitliche Abfolge bewusste Handlungsentscheidungen und ihrer motorischen Umsetzung zu messen:

  • Wann trifft der Proband eine bewusste Handlungsentscheidung?
  • Ab wann der bereitet motorische Kortex1) die Ausführung der Handlung vor
  • Wann  genau wird die betreffende Muskulatur tatsächlich aktiviert.
Durchführung und der genaue Aufbau des Versuchs lassen sich hier oder auch auf Wikipedia nachlesen.


Bemerkenswert war vor allem, dass der Zeitpunkt, zu dem die Handlungsabsicht bewusst wird, in jedem Fall deutlich nach dem Punkt liegt, an dem der motorische Cortex die Bewegung vorzubereiten beginnt. Platt formuliert: Das Gehirn hatte schon längst entschieden, bevor der Proband sich seiner Entscheidung bewusst war.
Dieses Resultat löste kontroverse Diskussion über die fragliche Freiheit des menschlichen Willens aus. Die Unterstellung eines freien Willens aber ist Voraussetzung für wesentliche Elemente unserer sozialen Organisation und für den Konsens, nachdem jeder Mensch die volle Verantwortung für seine Handlungen zutragen habe. Ein wenig erstaunlich ist diese Aufregung schon, denn die Verallgemeinerbarkeit des Libet-Versuche auf alle denkbaren, komplexe Entscheidungssituationen ist gänzlich unerwiesen (s.o.)

Libet selbst war ein Verfechter des freien Willens, dem er jedoch nur eine Vetofunktion zubilligte, d.h. die Möglichkeit, aufgrund moralischer Erwägungen unbewusste Handlungsimpulse zu unterdrücken. Dies würde bedeuten, unser Ich sei zwar nicht Herr über die Vielfalt der spontanen Einfälle, Ideen und Impulse, die in unserem Bewusstsein auftauchen. Dennoch stelle es eine prüfende Instanz dar, welche die Fülle der Handlungsimpulse filtere und nur manche von ihnen selektiv zulasse. Damit würde das Gehirn nicht einfach an unserem Bewusstsein vorbeientscheiden.

Über Libets Experimente wurde anfänglich dennoch die Auffassung geäußert, diese entlarvten den freien Willen als Illusion - sofern man bereit sei, die volle Konsequenz der experimentellen Ergebnisse zu akzeptieren. Er selbst gestand dagegen freimütig ein, seine Position zur Willensfreiheit sei allein von persönlicher Überzeugung geprägt und lasse sich nicht mit seinen Versuchsergebnisse belegen.-
Die eingangs kurz angesprochenen Religionen brauchen das Konzept des freien Willens – vor allem da, wo sie ihren Gläubigern ein göttlich-gerechtes Straf- und Belohnungsgericht in Aussicht stellen: Ohne freien Willen als Ursache unserer Entscheidungen und Handlungen wären Hölle und ewige Verdammnis schlichtweg unfair…jedenfalls nach menschlichen Maßstäben.-
Es ist ein markanter Gegensatz, den wir im Spannungsfeld zwischen Naturwissenschaft und religiösem Glauben/spiritueller Vorstellung antreffen: Während die Wissenschaft heute ‘glaubt’, Bewusstsein entstehe letztlich zufällig aus Materie (denn es sei ja im Gehirn lokalisiert), ‘weiß’ die Religion, dass Geist/Seele/Bewusstsein von Gott geschaffen und deshalb unsterblich ist. Die zweite Anschauung ist mir sympathischer, aber von Gewissheit kann keine Rede sein…
 

Jüngere Forschungsergebnisse: Und es gibt ihn doch?

Wie neuere Untersuchungen von Gehirnaktivitäten vor einer bewussten Entscheidung (John-Dylan Haynes, 2008) zeigten, lässt sich inzwischen sogar vorhersagen, welche Wahl ein Proband (in einer Versuchsanordnung) treffen wird – sieben (!) Sekunden bevor er bewusst entschieden hat. Eine aktuelle Studie von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig untersuchte lt. einem Bericht des STERN mögliche Konsequenzen aus Experimenten wie denen von Libet und Haynes:
“Kann man von einem freien Willen sprechen, wenn die Absicht, etwas zu tun, im Gehirn schon feststeht, bevor wir bewusst eine Entscheidung treffen?”
Dazu wurde die Höhe des Sauerstoffverbrauchs einzelner Gehirnareale beobachtet – ein Indikator für deren Aktivität. Zwischen Vorbereitung einer Handlung im Gehirn und deren Ausführung liegt eine messbare Zeitspanne:
“Es scheint, als würde die unbewusste Entscheidung im Gehirn vorbereitet und dann eine Zeit lang dort vor sich hinschlummern, bevor sie den Weg ins Bewusstsein findet”
Die Vorhersagbarkeit hatte übrigens Grenzen: die Forscher lagen in 60 % alle Fälle richtig – also nur 10 % über dem Wert, den ‘bloßes Raten’ erreicht (bei ausreichender Anzahl von Durchläufen ließe sich das richtige Ergebnis mit 50-prozentiger Erfolgswahrscheinlichkeit erraten).
Dieser Umstand scheint bei der Interpretation von Haynes Experimenten nicht sonderlich zu stören: Zweifel am freien Willen habe es schon länger gegeben… und da Haynes & Kollegen Entscheidungsvorbereitung über lange Zeiträume und mithilfe einer anderen Technik beobachteten, glaubten sie, die Zweifel an Libets Experimenten nun aus dem Weg geräumt zu haben.
ZEIT online kommt sogar zu dem hanebüchenen ErgebnisDer Computer von John-Dylan Haynes kann Gedanken lesen”. Ziemlich plakativ und vor allem eine Verallgemeinerung – denn Haynes Rechner wird nicht einen konkreten Gedanken verraten, sondern allenfalls eine thematische Einordnung (durch Feststellen des aktiven Hirnareals) vornehmen können.
Doch bleibt es bei dem Haupteinwand gegen eine vorschnelle und einseitige Interpretation solcher Versuche:
Diese können nach wie vor nur die Verläufe einfacher Auswahl-Entscheidungen (mit oft nur einer Alternative) beobachten und voraussagen. Eigentliche Bedeutung und Nutzen der aus einer freien Willensentscheidung hervorgehenden Handlungen liegen primär da, wo es reiflicher Überlegungen bedarf, und nicht Fragen wie ‘Ziehe ich blaue oder gelbe Socken an?’
  • Und: Wie sieht es z.B. bei Gefahrensituationen aus, in denen weitaus weniger als 7 oder 10 Sekunden für eine Reaktion bleiben – vor allem dann, wenn dieses Reagieren zu komplex für eine instinktive Verhaltensäußerung ausfällt (z.B. eine Erwiderung in ernsten Konfliktsituationen)?
  • Was ist, wenn wir ein Verhalten korrigieren, in dem wir z.B. beim Verfassen eines Textes eine zunächst gewählte Formulierung durch eine andere ersetzen? Ich mag damit falsch liegen, doch könnte gerade solch eine bewusste Korrektur dafür sprechen, dass wir von unserer Entscheidungsfreiheit Gebrauch machen.-
Der Mediziner und Psychotherapeut Ingo Wolf-Kittel verweist dagegen auf ein “Manifest von elf führenden Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung” (Artikel auf Gehirn&Geist.de oder als PDF zum Download).
Dem Laien liefert dieser Artikel einen Überblick zu Forschungsbereichen und Untersuchungsmethoden der Neurobiologie. Deren kombinierte Nutzung ermögliche es immerhin, das Zusammenspiel der verschiedenen Hirnareale darzustellen. Erst dieses Zusammenspiel befähigt uns zu kognitiven Leistungen wie z.B. planendes Handeln, Gedächtnisprozesse und emotionales Erleben. “Damit haben wir eine thematische Aufteilung der obersten Organisationsebene des Gehirns nach Funktionskomplexen gewonnen.”
Sogar die Abläufe in einzelnen Neuronen könne man heute hoher räumlicher & zeitlicher Auflösung analysieren und mit Hilfe von Computermodellen simulieren. Erschreckend wenig wisse man dagegen über das Geschehen innerhalb von Zellverbänden und die genaue Kommunikationsweise einzelner Nervenzellen miteinander. Wie die hochkomplexe Kommunikation einer großen Anzahl von Nervenzellen funktioniere, sei noch gänzlich unbekannt.
Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet; wie es die Welt so abbildet, dass unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen; wie das innere Tun als “seine” Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plant, all dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen.
Mit anderen Worten: auch wenn inzwischen bekannt ist, wo im Gehirn einzelne Prozesse stattfinden, sagt dies noch nichts darüber aus, wie diese im einzelnen funktionieren.
Vieles spreche dafür, dass neuronale Netzwerke als “hochdynamische, nicht-lineare Systeme” zu betrachten seien. Somit gehorchen sie zwar mehr oder weniger einfachen Naturgesetzen, brächten aber in ihrer Komplexität völlig neue Eigenschaften hervor. In diesem Kontext ist auch von “hochkomplexen raumzeitlichen Aktivitätsmustern” in diesen neuronalen Netzwerken die Rede.
Im Zusammenhang mit dem eingangs erwähnten Libet-Experiment erscheint mir folgender Passus von besonderem Interesse:
Wir haben herausgefunden, dass im menschlichen Gehirn neuronale Prozesse und bewusst erlebte geistig-psychische Zustände aufs Engste miteinander zusammenhängen und unbewusste Prozesse bewussten in bestimmter Weise vorausgehen.
Wenn hier tatsächlich eine ausschließliche(?) kausale Beziehung nachgewiesen werden kann, würde dies zugleich nahelegen, dass unser Bewusstsein – genauer gesagt die jeweils untersuchten, bewusst ablaufenden Prozesse im Gehirn – unmittelbar mit neuronalen Vorgängen verknüpft ist. Sollte man daraus schließen, dass unser Bewusstsein, zumindest aber unser bewusstes Erleben, Erinnern und Empfinden bis hin zum planvollen Handeln letztlich auf rein organischen und damit materiellen Vorgängen basiert?
Es scheint so:
  • “Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davon ausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind. [...]
  • Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht.
  • Und: Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis der modernen Neurowissenschaften.”
Mir will vor allem das letzte Statement nicht in den Kram passen, denn über die Evolution von Bewusstsein sagt es nichts aus. Dass viele unserer gedanklichen Leistungen eine Entsprechung im Organismus haben, lässt sich nicht bestreiten. Problematisch wird es da, wo der Geist und seine Entstehung bzw. Entwicklung vollständig auf eine materielle Ebene reduziert werden:
Persönlich verweigere ich mich der Vorstellung, unser ‘Ich’ mit all seinen Facetten werde allein durch materielle Vorgänge und Substanz produziert. Beweis oder wissenschafts-taugliche Begründung? Da muss ich leider passen.
Eher vermag ich Indizien dafür zu suchen, dass neben der materiellen eine weitere (‘geistige’) Ebene existiert, ohne die dieses Ich niemals so empfinden und erleben würde, wie es der Fall ist:
  • Wie war es möglich, dass sich aus den ersten einzelligen Lebewesen ein hochkomplexes Lebewesen namens Mensch entwickeln konnte, das sich seiner selbst bewusst und zu intellektuellen Höchstleistungen imstande ist? Buchstäblich vom Himmel gefallen sind wir wohl tatsächlich nicht. Aber das Produkt einer Reihe von Zufallsprozessen sind wir meiner Überzeugung nach ebenso wenig. M.E. spricht vieles dafür, dass anstelle des Zufalls eine erschaffende, ordnende und zielgerichtete Intelligenz am Werk war und ist, über deren Beschaffenheit wenig wissentlich sagen lässt.
  • Wie lassen sich mit der Entsprechung von Materie-Bewusstsein Vorgänge wie Nahtod-Erlebnisse erklären? Eine ausreichende Zahl beeindruckender Fälle ist gut dokumentiert – wir wissen, dass zur fraglichen Zeit keinerlei Gehirnaktivität vorhanden (=messbar) war – und doch besitzen diese Personen anschauliche Erinnerungen an die Vorgänge um sie herum. Diese Erinnerungen und das persönliche Erleben lässt sich nicht als Einbildung, Traumgebilde oder lügenhaftes Wichtigtun diskreditieren, wo sie mit den Aussagen mehrerer anwesender übereinstimmen.
  • Die Erinnerungen von Menschen an frühere Leben ist eine heikle Angelegenheit, weil gerade auf diesem Gebiet viel Schindluder getrieben wird, gerade auch durch ‘Rückführungstherapeuten’, die ihr Fachwissen einem Schnellkurs verdanken.
    Räumt man das Zweifelhafte beiseite, bleiben wiederum gut dokumentiere Fälle übrig, sodass der Geisteswissenschaftler Prof. Christopher M. Bache bereits 1990 zu folgender Einschätzung gelangte:
"Ich bin der Ansicht, dass die Forschung inzwischen genügend Beweise für die Reinkarnation zusammengetragen hat. Wenn wir uns ganz vorsichtig ausdrücken wollen, können wir sagen, dass … so viele Daten gesammelt und geprüft worden sind, dass der Wiedergeburtsgedanke … in eine Hypothese mit mittlerem oder gar hohem Wahrscheinlichkeitsgehalt verwandelt hat."
Das sieht freilich nicht jeder so: Der FOCUS online –Artikel “Paranormales vs. Wissenschaft: Leben, Sterben und Wiedergeburt” geht auf die Wissenschaftlichkeit der sog. Reinkarnationstherapie ein – abschließend bleibe nur das befreiende Lachen über die bedeutungsschwangeren Fantasiegebilde der Esoterik. Wie gesagt, Trittbrettfahrer gibt es überall und esoterische NewAge-Therapien scheinen besonders anziehend für solches Volk zu sein.
Aus den geschilderten Fällen von erfolgreich überprüften Erinnerungen an ‘frühere Leben’ vermag ich persönlich nur so viel erschließen: Geist scheint im mindesten auch eine nicht materielle Komponente zu besitzen.
 

Mein ‘Fazit’

Zurück zum Ausgangspunkt – also der Fragestellung, inwieweit unser bedingt freier Wille eine Illusion oder Selbsttäuschung ist.
Eine generelle Nichtexistenz freier Willensäußerungen lässt aus der Beurteilung von bis heute vorliegenden Forschungsergebnisse nicht folgern:
“Ob also neben den äußeren Reizen, dem aktuellen Zustand des Gehirns und vielleicht noch etwas Zufall auch noch freier Wille bei unseren Entscheidungen eine Rolle spielt, wird experimentell in absehbarer Zukunft nicht bestimmt werden können”. (Zufall ist kein freier Wille, Joachim Schulz)
Nur ist es meines Erachtens ist es weniger erheblich, dass wir in unseren Handlungen, Verhaltensweisen und Entscheidungen nicht ‘absolut frei’ sind. Entscheidend ist wohl eher, inwieweit wir den inneren und äußeren Bestimmungsfaktoren hilflos2) ausgeliefert sind. Falls dies zuträfe, wäre jede Form von philosophischer Ethik und Moraltheologie verschwendete Zeit.
Auch unsere
Rechtsprechung könnten wir dann größtenteils in die Tonne kippen, denn diese setzt Willens- oder wenigstens Handlungsfreiheit voraus.
Offensichtlich können wir die Frage nach jener Hilflosigkeit recht selbst-bewusst verneinen. Schließlich haben wir die Chance und Gelegenheit, uns ‘eines Besseren zu besinnen’, indem wir aus vergangenen Resultaten und Erfahrungen die richtigen Konsequenzen ziehen und diese lernend auf künftige Entscheidungssituationen anwenden.
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Siehe auch

Anmerkungen

1) Moto(r)cortex oder auch motorische Rinde ist ein abgrenzbarer Bereich der Großhirnrinde (Neocortex) und das funktionelle System, von dem aus willkürliche Bewegungen gesteuert und aus einfachen Bewegungsmustern komplexe Abfolgen zusammengestellt werden. Er bildet die übergeordnete Steuereinheit des Pyramidalen Systems… (vgl. Wikipedia)
2) ohne eigenes Verschulden: wer sich zudröhnt und in diesem selbst herbeigeführten Zustand andere schädigt, hat die Konsequenzen dafür zu tragen

4 Kommentare:

  1. H I N W E I S: Meine teils kritischen teil psychologisch weiterführenden Anmerkungen zum Thema "Hirnforschung und Willensfreiheit" aus dem Jahre 2005 sind hier zu finden.

    Wovon wir uns durch Willensbildung "frei machen", wird erst erkennbar, wenn man sich die Einzelheiten des Willensbildungsprozesses (wie viele sicher sagen würden) ansieht, also wie wir real Entscheidungen treffen - statt aus dem Bauch heraus oder rein gefühlsmäßig, instinktiv, unbewusst oder ganz natürlich bloß zu reagieren: unwillkürlich, reflexhaft, gewohnheitsmäßig, unbedacht, unreflektiert, spontan, intuitiv oder wie wir zu unüberlegtem Handeln sonst noch sagen können. (Leider hat sich dafür auch noch der regelrecht irreführende Ausdruck von sog. "Bauchentscheidungen" eingebürgert, obwohl die damit gemeinten angeblichen Entscheidungen gar keine sind, sondern bloße "Reaktionen" darstellen aus dem Gefühl heraus: weil sie eben ohne jedes bewusstes Denken oder gar überlegtes Entscheiden zustande kommen!)

    Der wichtigste, ja entscheidende "Schritt" dabei -- der übrigens auch in der Alltagspsychologie bekannt ist, weil "der Volksmund" Ausdrücke dafür hat wie zB. "vor Mund aufmachen Hirn einschalten" -- und das dazu nötige "Suspensionsvermögen" ist schon von John Locke (1632-1704) gesehen worden!

    Daran hat Geert Keil 2009 in seinem Beitrag zur Reclam-Reihe "Grundwissen Philosophie" (Nr. 20329) m.d.T. "Willensfreiheit und Determinismus" erinnert. Keil begründet in diesem gehaltvollen, meinem Eindruck nach viel zu wenig beachteten und ausgeschöpften Taschenbuch deswegen einen "fähigkeitsbasierten Begriff von Willensfreiheit".

    Der kommt den psychologischen Details der "Tat"-Sache realer Willensbildung ähnlich nahe wie Colin McGinn in seiner Abhandlung über die Eigenheiten unserer Vorstellungsfähigkeit "Das geistige Auge" (Primus, Darmstadt 2007, s. hier), obwohl das Thema "Willensfreiheit" für diesen Philosophen keins ist, dem er sich in diesem Buch eigens zuwendet. Für ihn ist es offenbar von selbst/verständlich, dass uns just unsere Vorstellungsfähigkeit - wie ich in meinem o.a. Artikel im zweiten Teil skizziere - das ermöglicht, was wir mit Willensfreiheit meinen.

    "Freiheit" fängt nämlich mit oder als Gedankenfreiheit an - mit "geistiger" Freiheit, wie traditionell gesagt wird. (Hier hat sich die versubtantivierende Redeweise von einer "Freiheit des Geistes" glücklicher Weise nicht etabliert im Unterschied zu der ebenso unsinnigen Ausdrucksweise von einer angeblichen "Freiheit des Willens" statt unserer Willensfreiheit: der Freiheit zu "wollen" oder anzustreben, zu was wir uns entscheiden!)

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    1. Vielen Dank für Ihren Hinweis und Kommentar.

      Es ist offensichtlich, aber nicht verwunderlich, dass Sie die gesamte Thematik weit tiefer und differenzierter durchdringen, als mir dies möglich ist.

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  2. Hallo, die von Dir zitierte Definition 'Im weitesten Sinne meint Willensfreiheit die unterstellte menschliche Fähigkeit, sich unter gegebenen Bedingungen für oder gegen etwas zu entscheiden'. Für mich erscheint diese Definition jedoch eher völlig unbrauchbar. Die Formulierung 'Im weitesten Sinne' ist in hier ein Wieselwort und wird in der Definition bereits sehr eingeschränkt.

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    1. Hallo und vielen Dank für deinen Kommentar.

      Ich stimme dir durchaus aus zu, die zitierte Definition ist zwar nicht falsch und genügt wohl formalen Kriterien; aber der Ausdruck 'im weitesten Sinne' kommt euphemistisch daher, denn der Charakter des 'freien'(!) Willens wird nicht klar herausgearbeitet.
      Andere Definitionen, die ich vorgefunden habe, setzen die 'bedingte' Willensfreiheit mit Handlungsfreiheit gleich; nach meinem semantischen Verständnis greift dies zu kurz.
      Schlägst du eine geeignetere Formulierung vor?

      Auf eine wissenschaftliche Aufbereitung der Thematik geht Herr Kittel in seinem Kommentar ein.

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