Sonntag, 5. Februar 2012

Ist die Null-Option überhaupt eine?

Der Begriff Nulloption findet im hier verlinkten Vortrag von Rupert Lay "Sinnsuche in einer komplexen Welt" des öfteren Verwendung. 

Er bezieht sich darin nicht auf Institutionen, sondern bezeichnet offenbar eine kategorische Verweigerungshaltung eines Individuums gegenüber weitreichenden Veränderungen unserer Zeit. Dazu können die Globalisierung, aber auch der Wandel zur Informationsgesellschaft oder bestimmte Technologien zählen, z.B. die Nutzung des Internets oder der Besitz von (mindestens) einem Smartphone.  


Tatsächlich sind sehr viele, wenn nicht alle Neuerungen unserer Zeit Segen und Fluch zugleich: Die Globalisierung eröffnet zunehmend mehr konkrete Möglichkeiten und stellt Optionen zur Wahl - gerade was unsere Lebensentwürfe betrifft: Berufsausübung, Reisen und Freizeit, aber auch die Gestaltung einer Partnerschaft (oder die Option des Single-Daseins) scheinen heute mehr denn je von unseren eigenen Entscheidungen abzuhängen. Generationen vor der unserer Eltern kannten 'Chancengleichheit' wohl nur aus Büchern, wenn überhaupt. Doch wir diese schöne, neue Freiheit wird von den Menschen sehr unterschiedlich wahrgenommen: 


Während die einen sie als Möglichkeit auffassen, zu tun und lassen, wozu sie Lust haben, erleben andere einen Zwang, sich so zu verhalten, wie 'Zeitgeist' und Gesellschaft ihnen abverlangen. Doch nicht nur Menschen sind davon betroffen, sondern auch Politik und Wirtschaft werden von Orientierungslosigkeit und Nulloption bedeutet neben symbolischen Handlungen und dem Sich-Fernhalten von 'Nutzlosem' auch, an sinnvollen Entscheidungen und folglich sinnvollen Entwicklungen in unserer Gesellschaft weder mitzuwirken noch teilzuhaben. Resultierend tritt eine Isolation des Optierenden ein, deren Ausmaß davon abhängt, wie konsequent das Sich-Verweigern betrieben wird. Die Vielzahl der Optionen nötigt uns manche Lebens- und Alltagsentscheidung auf. Sich diesbezüglich nicht aktiv zu orientieren, führt entweder zu Orientierungslosigkeit oder zur Wahrnehmung der Nulloption. Die Folge: Ich lebe ein Leben aus zweiter Hand:

Die Nulloption ist gekennzeichnet vom Beharrungsvermögen. Ich werde mit den vielen Optionen nicht fertig, ich kann sie nicht überschauen, also wähle ich keine Option, ich verharre, ich klammere mich fest, ich will nichts ändern. Es ist erschreckend, wie viele Menschen sich der Nulloption überlassen. Das Motto: Ich will nicht entscheiden, ich kann nicht entscheiden, ich lasse entscheiden. So entsteht das Leben aus zweiter Hand.
Orientierungslosigkeit entsteht aus dem Unvermögen, die notwendigen Entscheidungen zu treffen und im eigenen, selbstbestimmten Handeln zu realisieren. Erschlagen von der Vielzahl neuer Möglichkeiten, werden getroffene Entscheidungen schnell in Frage gestellt und zugunsten neuer, wiederum kurzfristiger Richtungsänderungen über den Haufen geworfen. 
 
Aus dieser Situation erscheint mir die Nulloption weniger ein Anzeichen von Beharrungsvermögen zu sein als eine Folge von Überforderung, tiefer Verwirrtheit und Resignation. Die unmerkliche, schrittweise Aufgabe jeder Selbstbestimmung begleitet die Nulloption. Wer keine Ziele mehr hat außer dem Nicht-Wollen, gibt sein Leben aus der Hand. Freilich existiert nicht die eine Option des Nichtwollens, sondern die Nulloption hat viele Formen und unterschiedlich starke Ausprägungen, wie zum Beispiel:
  • Ein gewisser Individualismus, nicht 'jeden Dreck zu fressen, der einem vorgesetzt wird' (sei es an Nahrung, Moden, Produkten oder Medieninhalten) kann kaum ungesund sein (und hat m.E. nichts mit Nulloption zu tun)
  • Allmähliches Absinken in die Orientierungslosigkeit, Nichthandeln und resultierender Stillstand persönlicher Entwicklung, bis hin zum Verkümmern
  • das 'aktive', starre bis starrsinnige 'Ich will das alles nicht mehr', das einhergeht mit einer Flucht in Ersatzthemen und -probleme, nur um sich den eigentlichen Herausforderungen nicht stellen zu müssen. (Vgl. Eskapismus)
Diesen und den vielen weiteren Formen von Nulloptionen ist eines gemeinsam - ein fortschreitender Realitätsverlust. (Das jeweilige Verhaltensbild einzuordnen ist nicht Angelegenheit von Außenstehenden, sondern alleinige Aufgabe der betreffenden Person, im Einzelfall auch mit professioneller Hilfe.) Unschwer erkennbar ist, dass die Nulloption nicht nur ein Daseinsdefizit von Individuen sein kann, sondern auch ein Phänomen, das Teile der Gesellschaft erfassen kann bzw. vermutlich schon erfasst hat. 

Ist nicht auch  das 'panische' Fokussieren von einem vermeintlichen Weltuntergang (1999, 2000, 2002) zum nächsten (2012, 2028,...) ein erschreckendes Charakteristikum dieser Realitätsflucht?
Sich einzureden, das Ende von Allem sei bald erreicht, ermöglicht zugleich die Aufgabe von Dingen, die ansonsten als bedeutsam anzuerkennen wären. Unter 'Loslassen' verstehe ich etwas anderes. 

Ich stelle mir auch die Frage, ob die Hinwendung zu immer flacheren Ablenkungsformen ('Dschungelcamp', u.v.a) nicht ebenfalls eine Form von Nulloptieren darstellt, zumindest aber ein resignatives Sich-Begnügen mit Wenigem, was man natürlich so nicht wahrhaben will. Null-Bock und Null-Option sind nicht weit voneinander entfernt, beide entspringen nicht zuletzt einer Angst vor der Zukunft:
Man verdrängt das Neue, das auch die eigene Zukunft sein wird, und verharrt in den alten Vorstellungen - bis die Realität einen einholt.
Sich im Hinblick auf die Notwendigkeiten von Gegenwart und Zukunft zu orientieren, ist alles andere als einfach: wo sollte man sinnvollerweise eine anstehende Veränderung mittragen, eventuell gar vorantreiben? Wo sollte das Neue nicht vorschnell übernommen werden, bei welchem 'Wandel' ist Vorsicht angebracht? Wo ist es richtig, sich zu verweigern? Auch hier gilt: Selberdenken und Eigenverantwortung sind ohne Alternative.

Wir befinden uns als Individuen und als Gesellschaft auf einer Gratwanderung "zwischen sinnvollem Fortschreiben von Akzeptiertem und rigidem Festhalten an Bewährtem" in der Hoffnung, dass alles irgendwie schon weiter geht." Als Alternative zur Nulloption sehe ich nur den Versuch einer selektiven Anpassung an eine sich schnell verändernde Welt. Als Orientierungshilfe mag dabei ein ethisches Konzept dienen, welches einen Kriterienkatalog für moralisch richtiges Handeln mitliefert.
  
Wer (nicht aus pubertärem Protestgehabe, sondern) aufgrund einer ethischen Entscheidung ein besonderes Ernährungskonzept bevorzugt und Fleischkonsum verweigert, übt seine Wahloption aus. Wer in einer Demokratie lebt und keinen Gebrauch von seinem politischen Wahlrecht (Welches Schweinderl...:) macht, tut dies ebenfalls - muss sich aber fragen, ob er die Konsequenzen seiner Nicht-Entscheidung verantworten kann.
In manchen Lebensfragen steht die Nulloption nicht zur Verfügung. Der Soziologe Ulrich Beck, von dem auch der Begriff Risikogesellschaft stammt, gab in einem Interview der ZEIT (geführt v. Christiane Grefe) ein interessantes Statement ab:
Wir müssen wählen ... Es gibt nicht nur Wahlfreiheit, sondern auch Wahlzwang. Eine Frau zum Beispiel, die vor der Frage steht, ob sie ihr Kind abtreiben soll, weil in der genetischen Beratung mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit bestimmte Krankheitsanfälligkeiten diagnostiziert wurden, muss eine unentscheidbare Entscheidung treffen. 
Das ist keine neue Freiheit. Im Gegenteil: Die Freiheit der Nulloption, der Selbstbegrenzung angesichts galoppierender Unsicherheiten ist ihr zur unerreichbaren Utopie geworden.-
Mir fällt zu dieser 'Utopie' ein Sinnspruch aus früheren Tagen ein:  
 

"Dem Leben ist es egal, wie du dich tot stellst."

Wenn auch nicht gerade intellektuell ausgedrückt, liegt darin meines Erachtens die Antwort auf die Frage, ob die Nulloption wirklich eine Option (auf individueller Ebene) darstellt. Eine Weile mag es funktionieren, das Cocooning zu perfektionieren - sich zurückziehen in die eigenen vier Wände, das Einigeln samt Internet, Versandhaus-Einkäufen und diversen Home-Services. 
"Wem die Welt draußen zu kompliziert, stressig und uninteressant geworden ist, der zieht sich in seinen kleinen, überschaubaren Lebenskreis zurück wie in einen Kokon." 
Früher oder später treten meist Situationen einen, die ein kritisches Überdenken dieses fragwürdigen Konzeptes (oder die Einsicht in einen krankhaften Zustand) unabdingbar machen - oder der (manchmal schrittweise) Tod. Bevor es dazu kommt, steigt jedoch der Leidensdruck, der sich nicht selten als Impulsgeber einer notwendigen Selbstregulation erweist.  

Übrigens ist diese Selbstregulation genau das, was der etwas weiter oben zitierte Soziologe Ulrich Beck unter Freiheit versteht...

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