Freitag, 10. Februar 2012

Christentum: universaler Wahrheitsanspruch?

Man muss nicht in allem übereinstimmen, um bestimmte Beobachtungen zu teilen. So geht es mir in Bezug auf ein Skript des früheren Joseph Kardinal Ratzinger, der sich inzwischen als Stellvertreter Gottes auf Erden hat ablösen lassen. Mit der Schilderung seiner Beobachtung über die kritische Verfassung des Christentums ("Der angezweifelte Wahrheitsanspruch") liegt Ratzinger m.E. richtig. Dessen Krise habe zwei Dimensionen.

Religion und objektive Wahrheit 

Es darf angezweifelt werden, ob der Mensch überhaupt imstande ist, das Wesen Gottes zu erkennen.
Gerade das Christentum in seinem hohen seinem Wahrheitsanspruch scheine die menschlichen Grenzen im Erkenntnisvermögen nicht wahrzunehmen. Man kann die gleiche Frage aber auch anders stellen. Ist Religion als Versuch, den eigentlich individuellen, persönlichen Glauben an Gott zu organisieren und zu reglementieren überhaupt ein geeignetes Instrument, sich objektiven Wahrheiten zu nähern?
(Als objektiv verstehe ich hier einen breiten Konsens in Bezug auf einen konkreten Tatbestand...sonst müsste man endlos darüber diskutieren, inwieweit 'objektive Wahrheit' überhaupt existieren kann.)

So ein Konsens ist vorstellbar über unbestreitbare, beobachtete Erkenntnisse auf dem Gebiet der Naturwissenschaften; und er kann nur in einem langen Forschungs- und Erkenntnisprozess - erarbeitet, aber niemals oktroyiert werden. Die fundamentale Wahrheit in Bezug auf Gott könnte allenfalls in der gesicherten Erkenntnislage seiner Existenz oder Nichtexistenz zu finden sein.
Über dieses Wissen wird der Mensch nach meiner Überzeugung aber niemals verfügen. Insoweit scheint für mich festzustehen, dass Religion von ihrem Wesen und Gegenstand her nicht der objektiven Wahrheitsfindung dienen kann. Darin liegt auch nicht ihre Aufgabe, die ich vornehmlich in der seelsorgerischen und ethisch-pädagogischen Betreuung von Menschen sehe, die eine solche Form des Zuspruches und die Einbindung in eine glaubensorientierte Sozialgemeinschaft ausdrücklich wünschen.


Andererseits kann eine Religion bzw. eine relgiös-fundamental ausgelegte Organisation sich durchaus ein hohes Maß an Integrität und Glaubwürdigkeit erarbeiten und bewahren. Genau da aber liegt eigentliche Krise des Christentums und ganz besonders der katholischen Konfessionsgemeinschaft. Sich dem zu stellen tut erstens weh und erfordert zweitens Konsequenzen, die sich aus einer vorbehaltsfreien Ursachenforschung ohne Zweifel ergeben würden.

Folglich referiert Ratzinger vorzugsweise über eine generelle Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch in Sachen Religion, der gleichwohl artikuliert wird - m.E. jedoch nicht das Hauptproblem der Kirche darstellt. Deren vitale Krise besteht seit 10 Jahren, wohingegen die zusätzlichen Spannungsfelder zwischen Religionen und der modernen Wissenschaft seit über hundert Jahren existieren, mindestens aber seit der Nachkriegszeit. Ihnen müssen sich die überlieferten Ursprünge und Inhalte des Christlichen zusätzlich stellen:
  • Durch die Evolutionstheorie scheint die Schöpfungslehre überholt,
  • durch die Erkenntnisse über den Ursprung des Menschen scheint die Erbsündenlehre erst recht unhaltbar geworden;
  • die kritische Exegese relativiert die Gestalt Jesu und setzt Fragezeichen gegenüber seinem Sohnesbewußtsein;
  • der Ursprung der Kirche in Jesus erscheint zweifelhaft und so fort.
Kurzum: Durch das „Ende der Metaphysik" sei dem Christentums seine philosophische Grundlage abhanden gekommen. Wie ist das möglich? Doch nur, indem sich die Kirche auf einen Jahrhunderte währenden Konflikt mit der Natur- und auch der liberalen Geisteswissenschaft eingelassen hat, der die 'Wohnungsnot Gottes' vorhersehbar heraufbeschworen hat:
Lag der Klerus vor 600 Jahren noch eindeutig vorne, hat sich das Kräfteungleichgewicht unmerklich aber stetig zugunsten der säkularen Kräfte verschoben. Nachher ist man immer schlauer - doch erscheint mir dieser Konflikt künstlich und im Grunde überflüssig:
Gott selbst als transzendente (jenseits von Zeit, Raum und Materie) existierende Wesenheit kann nicht an Bedeutung, Macht, Einfluß usw. verlieren - etwas anderes ist geschehen: Die Institution Kirche hat sich böse verkalkuliert, als sie glaubte einen Kampf gewinnen zu können, zu dem sie keinen Auftrag hat.
Eine, wie ich meine unangebrachte, Fokussierung des spirituellen Wahrheitsanspruches auf weltliche Themen ging einher mit Macht- und Besitzstreben der handelnden Akteure. Diese wurden zugleich verführt und später korrumpiert durch ihr Eigeninteresse - bis eine Kirche der Liebe allenfalls noch in unausgesprochenen Gedanken existierte.
Dieser Gesinnungswandel zeigt sich gerade auch im Umgang mit Andersdenkenden, die lange genug in Kreuzzügen bekämpft und auf Scheiterhaufen verbrannt wurden. Nicht die Lehre Jesu bedurfte des Schutzes, vielmehr wurden die weltlichen Interessen und die Exklusivität eines Machtapparates verteidigt.

Ratzinger beklagt das Ergebnis dieser Niederlage, welches sich auch dadurch zeigt, dass christliche Inhalte zunehmend als Symbole aufgefasst werden - denen im Kreis der übrigen Religionen "und Mythen" kaum mehr eine Sonderstellung zugestanden wird. In Bezug auf unklare Mythen ohne gegenwärtig noch sichtbares Fundament wäre dies nun wirklich eine Fehlentwicklung - doch hat das Christentum auch heute noch einen als selbstverständlich wahrgenommenen, höheren Stellenwert als das antike Pantheon der Römer und Griechen.


In Bezug auf andere Weltregionen allerdings ist eine Egalisierung eingetreten, die schon in unserer Verfassung mit einer allgemeinen Religionsfreiheit verankert ist. Darin entdecke ich keinen Missstand, sondern einen wertvollen Beitrag zu Frieden und gegenseitiger Toleranz. Nicht nur aus der Religionsgeschichte, auch im Nahen Osten der Gegenwart erfahren wir beinahe täglich die tödlichen Konsequenzen einer Fehleinschätzung, mit der sich die eine Religion für einzig wahr und alle übrigen für unwahr und zudem für anti-islamisch, anti-jüdisch oder anti-christlich erachtet. Bis heute impliziert der christliche Glaube eine "verlässliche Verheißung" für viele Menschen - doch steht nicht mehr als einziges spirituelles Konzept zur Auswahl.


Für meinen Teil kann ich in dieser Entwicklung nur Positives entdecken: Christen von heute sind nicht mehr mit Zwang, Feuer und Schwert Missionierte, sondern leben ihren Glauben als Ausdruck einer freien Eintscheidung. Sorge bereitet mir nicht das temporäre Schwächeln einer Kirche, sondern die Tatsache, dass immer weniger junge Menschen sich überhaupt auf eine spirituelle Sinnsuche begeben ... doch das ist ein anderes Thema.


Mein anfänglicher Wunsch nach kritischer Selbstreflexion kirchlichen Handelns bleibt nicht unerfüllt: Die christliche Theologie müsse, schreibt Ratzinger sich den gegen den Wahrheitsanspruch des Christentums gerichteten Instanzen aus allen Bereichen der Wissenschaft stellen. So wie er das schreibt, entsteht freilich ein anderer Zungenschlag: Sorgsam überprüft werden sollen - so verstehe ich seine Worte - die Wissensinhalte und Erkenntnisse der 'anderen', vermeintlich gegnerischen Seite. Immerhin fordert er zugleich auch die "Gesamtvision der Frage nach dem wahren Wesen des Christentums", nach seiner geschichtlichen Stellung in der der Religionen und nach seinem Platz menschlichen Existenz.


Tatsächlich hatte das Christentum in seinen Anfängen eine wesentliche Rolle im Bereich der theologisch-philosophischen Aufklärung eingenommen, doch vermag ich diese Funktion nur solange, bis mit seinem Wandel zur Staatsreligion und dem Konzil von Nicäa ein rücksichtsloser Dogmatismus Einzug hielt. Aufklärung ist untrennbar verbunden mit einer Art 'pluralistischen Vielfalt', von der sich das Staats-Christentum spätestens mit der Ausrottung des Arianismus und seiner Anhänger verabschiedet hat.


Jedenfalls wurde und wird die hierarchisch straff durchorganisierte Kirche 'von außen' mit dieser dominierenden Autorität identifiziert - weniger dagegen mit den Idealen bewundernswerter Individuen wie Franziskus von Assisi (der zudem seine Berufung und wohl auch sein Überleben einer wundersamen Fügung verdankte). Sollte es Ratzinger (zumindest bevor er dann Papst wurde) Ernst gewesen sein mit dem Geiste philosophischer Aufklärung im Christentum, welche das Göttliche zu vermitteln habe, das die vernünftige Analyse der Wirklichkeit wahrnehmen könne?

Falls ja, müsste es sich dann nicht lossagen von jener Rechtfertigung, die in ihrer politischen und sozialen Nützlichkeit liegt? Ich habe keine Idee, wie dies in umfassender Weise zu bewerkstelligen wäre - die Geschichte einer Jahrhunderte als gewalttätig und "im Namen des Herrn" Zwang ausübend wahrgenommenen Autorität lässt sich nun mal nicht zurück drehen.

Doch bestünde allemal die Gelegenheit, in geeigneten Reformen Zeichen zu setzen - ohne die Identität des christlichen Glaubens aufzugeben. Doch geht meine Vermutung dahin, dass die Mehrheit der interessierten Menschen mit dem Begriff theologischer Aufklärung etwas grundlegend anderes verbindet als Dies ist die Bezugnahme des heutigen Christentums auf die Areopagrede des Paulus und seinen Anspruch, die religio vera zu sein. Der christliche Glaube beruhe in erster Linie auf Erkenntnis, betont Kardinal Ratzinger - impliziert dies nicht, dass Menschen aufgrund ihrer Individualität eben nicht zu einer Einheits-Auffassung vom Wesen Gottes und dem geeigneten Zugang zu ihm gelangen werden, wie sie der Katholizismus mit seinem intern verbindlichen Kirchenrecht (etwa dem Codex Iuris Canonici) vorgibt?



"Im Christentum ist Aufklärung Religion geworden und nicht mehr ihr Gegenspieler."
Ratzinger kommt nun auf den Kern des Problems zu sprechen, den selbst verordneten Absolutheitsanspruch: Weil Christentum sich als "Sieg der Entmythologisierung, als Sieg der Erkenntnis und mit ihr der Wahrheit" verstand, habe es sich als universal ansehen und zu allen Völkern gebracht werden müssen.
Die Selbstwahrnehmung war nicht als eine spezifische Religion, die andere verdrängt - die Außenwahrnehmung jedoch eben jener "religiöse Imperialismus" heraus, den Ratzinger als Hauptmotiv nicht gelten lassen will. Es tut nicht Not, hier Belege für dieses Leitmotiv anzuführen, doch sie existieren bis heute auf jedem Kontinent der Erde.

Aus meiner Sicht ist bezüglich der Begründung zwischen dem christlichen Glauben allgemein und der katholischen ('die ganze Erde umspannende') Kirche speziell zu unterscheiden. Letztere betrachtet sich als apostolisch - sie wurde durch die Apostel gegründet und lehre, was die Apostel lehrten, ihre Bischöfe sind Nachfolger der Apostel und der Bischof Roms betrachtet sich als der Nachfolger des Apostels Petrus.

Da nur sie als Kirche diese vier Merkmale aufweise, sei die römisch-katholische Kirche allein sie die wahre, von Jesus gegründete Kirche. Inwieweit diese Herleitung, der römische Katholizismus sei der von Jesus gelehrte und autorisierte Glaube als zutreffend erachtet werden kann, vermag ich nicht zu beurteilen.

Wo "Wahrheit den Schein überflüssig macht", braucht es keinen Zwang. Wenn es wirklich um das Erkennen der Wahrheit geht, so darf wohl angenommen werden, dass Menschen sie erfassen können, wenn sie mit ihr erstmals in Berührung kommen. Die Vorgehensweise christlicher Erfüllungsgehilfen war jedoch oft genug von Zwang und Angsterzeugung bestimmt, und so waren es nicht - wie Ratzinger es darstellt - Inhalte der Glaubensbotschaft, welche die gesamte christliche Religion als unverträglich, mitunter feindlich gegenüber anderen Religionsauffassung erscheinen ließ.


"An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen" - und genau das ist eingetreten.

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